34 Erstes Buch: Geschichtliche Einleitung. III. Kapitel. 8 10.
Bundesverfassung nicht zu einem Bestandtheile des preußischen Verfassungsrechts geworden,
wohl aber war bewirkt worden, daß das preußische Verfassungsrecht insoweit außer Kraft trat,
als es mit den Bestimmungen der Bundesverfassung in Widerspruch stand.
Der Eintritt Preußens in den am 1. Januar 1871 zum deutschen Reiche erweiterten
norddeutschen Bund hatte für, das preußische Staatsrecht nach einer doppelten Richtung
Wirkungen. Einmal ist durch die Bundes= bezw. Reichsverfassung der König von Preußen
zum Bundesoberhaupt bezw. deutschen Kaiser erklärt worden und sind in Folge dessen die
aus dieser Stellung sich ergebenden Präsidialrechte dauernd mit der preußischen Krone ver-
bunden. Andererseits ist, insoweit das Reich auf verschiedenen Gebieten des Staatslebens
sich für zuständig erklärt hat, der preußische Staat in seiner Gesetzgebung und Verwaltung
bezw. bloß in der Gesetzgebung beschränkt; an die Stelle preußischen Rechts ist Reichsrecht
getreten, das sich aber freilich auf den meisten Verwaltungsgebieten mit dem preußischen
Verwaltungsrechte so durchdringt, daß eine Darstellung des preußischen Verwaltungsrechts
ohne stete Berücksichtigung des Reichsrechts gar nicht möglich ist. Dagegen ist allerdings das
preußische Verfassungsrecht durch den Eintritt Preußens in den norddeutschen Bund, bezw.
das deutsche Reich im Wesentlichen unberührt geblieben.
Das Ergebniß ist demnach dahin zusammenzufassen, daß nur auch denjenigen Gebieten,
die der Gesetzgebung und Beaufsichtigung des Reiches nicht unterliegen, die preußische Staats-
gewalt sich ebenso frei und unabhängig bewegen kann, wie früher, daß aber, soweit die Reichs-
gesetzgebung Platz greift, die prenßische Staatsgewalt nur noch als ausführendes Organ der
ihr übergeordneten Staatsgewalt erscheint und daß auf manchen Gebieten (auswärtige Ver-
waltung, Marine, Post= und Telegraphenwesen u. s. w.) auch hinsichtlich der Verwaltung die
Reichsgewalt an die Stelle der preußischen Staatsgewalt getreten ist.
Der Verfassungskonflikt der 60er Jahre hatte, wie schon erwähnt, bei dem tiefgehenden
Gegensatz zwischen der Regierung und dem Abgeordnetenhause jede größere gesetzgeberische
Reform unmöglich gemacht. Nach Beilegung des Konflikts und nachdem die neu erworbenen
Gebiete durch eine Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen möglichst an den neuen Staatsverband
angeschlossen waren, war die gesetzgeberische Thätigkeit um so reger. Von den in die Regie-
rungszeit Wilhelms I. fallenden Reformen ist namentlich hervorzuheben die großartige Ver-
waltungsreform, welche durch die Kreisordnung vom 13/12. 1872 für die Provinzen
Preußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien und Sachsen eingeleitet wurde und ein doppel-
tes Ziel verfolgte: Schaffung und Ausban einer weitgehenden Selbstverwaltung der Kom-
munalverbände höherer und niederer Ordnung und Ausbau des Rechtsstaats durch Schaffung
einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und von Einrichtungen, die den Zweck haben, die Gesetz-
mäßigkeit und Unparteilichkeit der Verwaltung möglichst zu fördern. Auf die Einzelnheiten
der Verwaltungsreformen kann jedoch hier nicht näher eingegangen werden, wie auch die Dar-
stellung des an den Erlaß der kirchenpolitischen Gesetze sich anknüpfenden sogenannten
Kulturkampfs an anderer Stelle zu geben ist.