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niederen Kreise mehr als die höheren; die an sich höhere Zahl der
Proletarierbevölkerung, ihre schlechteren Ernährungs= und Wohnverhält-
nisse müssen zweifellos der Seuche eine breitere Angriffslinie gegeben
haben. Die wirtschaftliche Folge war, daß der Preis der Arbeitskräfte
dadurch stieg, sowohl der ländlichen als der städtischen, daß damit die
Produktion, sowohl landwirtschaftliche als gewerbthätige, ebenfalls im
Preise in die Höhe ging; mit der verbesserten wirtschaftlichen Lage
wuchs aber nicht nur die Kinderzahl der niederen Stände, sondern vor
allem auch ihr politischer Sinn und ihre Unabhängigkeits= und Herr-
schaftsgelüste. Die Pest staute zwar durch den Schrecken ihres
Auftretens eine kurze Zeit lang die soziale Bewegung, die die erste
Hälfste des 14. Jahrhunderts, zum Teil auch schon das 13. Jahr-
hundert, erfüllt hatte, leistete ihr aber dann direkten Vorschub, teils
weil sie überhaupt die Bande der Ordnung löste, teils aus den oben
genannten Gründen volkswirtschaftlicher Natur, zu denen dann als
neuer hinzutritt, daß in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die
Zeit liegt, in der der deutsche Handel, begründet auf einer erblühenden
Industrie, den Weltmarkt zu erobern beginnt. Mit dem gesteigerten
Handel und Verkehr mehrten sich die größeren Vermögen und mit
ihnen Luxus, Verschwendung, lppigkeit. Diese letzteren könnten gar
nicht als Zeichen der sittlichen Verschlechterung so allgemein und so
auffällig hervorgetreten sein, wenn nicht ein bedeutender Wohlstand
als Vorbedingung vorhanden gewesen wäre. Unter solchen Voraus-
setzungen wachsen aber auch die sozialen Gegensätze, wächst Klassen=
und Parteihaß, mehrt sich die demokratische Auflehnung gegen das
patrizische Element, mehrt sich die Wut der Enterbten gegen die mit
vollen Zügen Genießenden. Hieraus erklärt sich die Judenverfolgung
zu allernächst; gewiß spielte auch Glaubensfanatismus eine Rolle, vor-
nehmlich aber war es die Auflehnung gegen die kapitalistische Aus-
beutung durch die Juden, und unter diesem Zeichen geht dann auch
eine tiefe Bewegung gegen andere reiche Leute, vor allem aber auch
gegen die Kirche, die mit einem ganz einzigen Reichtum ausgesiattet
dastand und nichts weniger als eine moralisch bessernde Anstalt
mehr war und die Gelübde der Armut und Keuschheit nur noch auf
den Lippen trug, unbeschadet der glücklicherweise noch immer vorhandenen
wirklich frommen und ernstdenkenden Angehörigen des geistlichen Standes.