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sich die Nachwelt wundern, daß es ein so rasendes Jahrhundert
gegeben hat, wo solcher Unsinn Beifall finden konnte.“ Im Gegen—
satz zum melanchthonischen oder „philippistischen“ Wittenberg ge—
staltete sich Jena zu einer Hochburg des strengen Luthertums;
schon 1557 erschien da Matthias Flacius, als dessen Schüler sich
Johann Wigand, Matthäus Judex, Simon Musäus u. a. her-
vortaten.
Mehr noch sollte die Gemüter entzweien und zugleich von
den schlimmsten politischen Folgen begleitet sein der Streit über
die Abendmahlslehre. Bekanntlich hatte sich Luther 1529 zu Mar-
burg mit Zwingli über dessen rein symbolische Auslegung des
Abendmahles nicht einigen können. Melanchthons Stellung war
anfänglich dieselbe gewesen. Dann hatte er sich infolge seiner
sprachlichen und historischen Studien davon entfernt. Eine neue
Ausgabe der Augsburger Konfession im Jahre 1540, die um so
nötiger wurde, als ein authentisches Exemplar der 1530 überreichten
Bekenntnisschrift nicht mehr existierte, gab ihm Veranlassung in dem
Artikel X zunächst die in der Fassung von 1531 enthaltene Ver-
werfung „der Gegenlehre“, also der Zwinglischen, wegzulassen und
einen etwas sparsameren Gebrauch von dem Worte „wahrhaft“ zu
machen. In dieser Fassung, die also noch, wenn auch nicht ohne
Bedenken, Luthers Zustimmung erhielt, unterschrieb die berühmte
Bekenntnisschrift auch Calvin. Hier war also die Möglichkeit einer
zukünftigen Verständigung gegeben. Während Luther in seinen
letzten Lebensjahren diesem Gedanken sich verschloß, hielt Me-
lanchthon gegenüber der wachsenden Macht der alten Kirche an einer
Annäherung an die Kirche Calvins fest; wurde doch auch auf
sämtlichen Reichstagen bis ein Jahr nach seinem im Jahre 1560
erfolgten Tode nur immer die geänderte Fassung der Augustana,
die sog. Variata, den Verhandlungen als die maßgebliche zugrunde
gelegt. Kurfürst August war zu wenig schulgemäß-theologisch ge-
bildet, um die Subtilitäten zwischen der streng lutherischen Rich-
tung und der philippistischen auseinanderhalten zu können; jeden-
falls hielt er sich für einen einwandfreien Lutheraner und er-
klärte, daß, so er eine calvinische Ader im Leibe hätte, der Teufel
sie ihm bei lebendigem Leibe herausreißen solle.