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trinmphierte mit manchmal zu lauter Stimme auf den eroberten
Positionen. So begegneten sich Orthodoxie, Unduldsamkeit und
Obskurantismus auf der einen Seite mit Libertinismus, blasierter
Aufklärung und Radikalismus auf der anderen Seite.
Werfen wir noch einen Blick auf die öffentliche Meinung
in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts und besonders
in den Tagen, da Sachsen zu einem Königreiche umgestaltet wurde.
Es ist oben angedeutet worden, daß die philosophische Denkungs-
weise noch bis in das 19. Jahrhundert hinein beeinflußt wurde
durch den Rationalismus Wolffs, den übrigens seinerzeit der früher
erwähnte Konferenzminister Graf Manteuffel gern nach Leipzig
berufen hätte, als er in Halle wegen angeblicher Verachtung der
Religion 1723 abgesetzt worden war. Diese philosophische Rich-
tung ging in Sachsen vornehmlich aufs moralische, freilich dabei
nur das Praktische einer äußeren Moral, eine maßvolle Wohl-
anständigkeit und eine hausbackene Rechtlichkeit im Auge habend-
Und wie Gellert neben der Reinheit der Sitten auch Reinheit des
Stiles verlangte, so traten zu den moralischen Reflexionen
literarisch-ästhetische Interessen in einer auffallend starken Be-
vorzugung, die sich aus einer allgemein verbreiteten höheren Bil-
dung erklärt; diese wurde von den Reisenden der damaligen Zeit
allgemein gerühmt, u. a. in dem bekannten Buche de FAllemagne
der Frau von Stasl, die von 1803 auf 1804 und dann noch ein-
mal 1808 in Deutschland gelebt hat. Aber auch hier zeigte sich
dieselbe Verflachung. Die „Bibliothek der schönen Wissenschaften“.
die Christian Felix Weiße begründet hatte, die aber 1806 ein-
schlief, zählte nicht einen einzigen bedeutenden Mitarbeiter. Die
Lieder „Ringulfs des Barden“, die der Zittauer Karl Friedr.
Kretschmann (1738—1809) im Anschluß an Ossian dichtete ver-
klangen bald, und der Stern des jugendlichen Mansfelders Georg
Friedr. Philipp von Hardenberg (1772—1801) erbleichte in einem
frühen Tode. Auch zeichneten sich die sächsischen Schriftsteller
weniger durch Originalität, als durch Fruchtbarkeit aus. Der
Archivsekretär Meißner, ein Günstling des Ministers von Wurmb,
war der Verfasser von 56 Bänden, und der frühere Artillerie
hauptmann Gustav Schilling in Freiberg schrieb während einer