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Nun kam zwar in der weiteren Folge die Wahlrechtsdeputation zu einem Kompro-
mißvorschlage, der die Zahl der Abgeordneten der zweiten Kammer auf 96 erhöhte,
jedem irgend eine direkte Steuer zahlenden und 25 Jahre alten sächsischen Bürger
das Wahlrecht gab, zugleich aber eine bis drei Zusatzstimmen je nach Bildung und
Einkommen hinzufügte. Aber dieser an sich nicht unebene Entwurf scheiterte an
dem Verlangen der Nationalliberalen nach einer anderen, den ländlichen Besitz
nicht mehr in gleicher Weise bevorzugenden Wahlkreiseinteilung. Daraufhin brachte
die Regierung den sogenannten Eventualvorschlag ein, der, um es kurz zu formu-
lieren, zwei Klassen von Wählern schuf: solche mit nur einer und solche mit vier
Stimmen. Wenn auch die vorhergenannten Entwürfe nicht gänzlich von dem Ein-
wande einer neuen Klassenschaffung befreit werden konnten — der Regierungsvor-
schlag arbeitete ganz klar auf eine Zweiklassenwahl hin. Am 2. Dezember 1908
nahm die zweite Kammer diesen auf das heftigste von den liberalen Parteien an-
gesochtenen Entwurf mit nur 3 Stimmen Mojorität an, obwohl er verfassungsge-
mäß, weil eine Verfassungsänderung enthaltend, zur Annahme einer Zweidrittelmajorität
bedurft hätte. Der Zweck, der die ganze Reformbewegung hervorgerufen hatte, nämlich
eine Beruhigung und Befriedigung wenigstens der staatserhaltenden Kreise des
Landes, war mit diesem Beschlusse jedenfalls nicht erzielt. Da brachte die Erste
Kammer Abhilfe und bewies damit glänzend ihre sonst so oft angefochtene Existenz-
berechtigung. Zunächst trat sie dem Beschlusse der Zweiten Kammer nicht bei, trat
aber zugleich mit einem Entwurfe hervor, der im wesentlichen der Arbeit des be-
kannten Leipziger Staatsrechtslehrers Geh. Rat Prof. Dr. Wach zu verdanken war,
in der Grundidee sich aber an den Kompromißvorschlag der Wahlrechtsdeputation an-
lehnte. Zwar eine neue Wahlkreiseinteilung war auch hier nicht vorgesehen, aber
es waren doch wenigstens die großstädtischen Wahlkreise vermehrt und dadurch die
Zahl der Abgeordneten auf 91 erhöht worden. Als Grundlage war erneut das
allgemeine, einheitliche, aber nach bestimmten Bedingungen abgestufte Stimmrecht
angenommen worden. Jeder Wähler, der direkte Steuern zahlt und 25 Jahre alt
ist, hat eine Grundstimme. Dazu treten bis zu drei Zusatzstimmen nach Maßgabe
des Einkommens, des Grundbesitzes, der öffentlichen und privaten Beamteneigen-
schaft, der Bildung (Einjährigen-Zeugnis, Akademie-, Universitäts= usw. Studium)
und eventuell des Alters (50 Jahre). Auf das Nähere hier einzugehen, verbietet
der Raum. Diesen Entwurf machte am 20. Januar 1909 die Erste Kammer ein-
stimmig zu dem ihrigen, am 22. Januar trat die Zweite Kammer mit 72 gegen
5 Stimmen bei, sichtlich froh, aus dem von den beiden leitenden Parteien durch
Verstiegenheit und Doktrinarismus geschaffenen Dilemma einen Ausweg gefunden
zu haben.