92 Historische Kritik in der evangelischen Kirche.
Gährung zu beschwichtigen. Wenn 1789 die französische
Revolution wesentlich durch das sociale Elend der Volks-
massen möglich geworden war, so wuchs jetzt mit der Stei-
gerung des Wohlstandes auch das Selbstgefühl des deutschen
Bürgerthums und mit ihm der Unwille, durch die bundes-
tägliche Reaction der besten Freiheitsrechte beraubt zu sein.
Aber damit nicht genug. Man weiß, daß die Deutschen,
wenn auch nicht unempfindlich bei politischen Streitfragen,
doch im innersten Grunde des Herzens erst durch religiöse
Kämpfe erregt werden, und gerade jetzt traten auf diesem
Gebiete zwei mächtige Bewegungen, von gleicher Stärke, aber
entgegengesetzter Richtung, ein. Das bisherige Stillleben der
evangelischen Kirche unter der Herrschaft der Schleiermacher'schen
Theorie von der Vermittlung zwischen Glauben und Wissen
wurde 1835 plötzlich gestört durch David Strauß' Leben Jesu,
und die bald darauf folgenden Werke F. Chr. Baur's und der
übrigen Vertreter der damaligen Tübinger Schule. Hier
wurde der Beweis unternommen, daß mit wenigen Ausnahmen
die neutestamentlichen Schriften keine historischen Quellen,
sondern in historische Form gekleidete, während 150 Jahren
successiv entstandene dogmatische Erörterungen seien: womit
also der kirchlichen Rechtgläubigkeit ihre historische Grundlage
bestritten, und die Wahrheit der christlichen Dogmen lediglich
von dem innern Werth ihres Inhalts und „dem Beweis des
Geistes und der Kraft“ abhängig gemacht wurde. Es leuchtet
ein, in welchem Umfange auf diesem Standpunkte für alles
religiöse Leben an die Stelle der objectiven Autorität der
Kirche das subjective Ermessen des Einzelnen treten mußte.
So war das Aufsehen unermeßlich, die Fluth der Schriften
und Gegenschriften fast unabsehbar, und die Theilnahme