Ultramontane Bewegung in der katholischen Kirche. 93
wenigstens aller Gebildeten im höchsten Grade gespannt. Bald
griff der Kampf von dem historischen auch auf das philosophische
Gebiet hinüber: während bis dahin das unbestritten verehrte
Hegel'sche System als conservativ in politischen und kirch-
lichen Fragen gegolten hatte, erhob jetzt eine Gruppe seiner
Schüler die Behauptung, daß nach seinen Grundsätzen in
strenger Consequenz der reine Atheismus und die unbedingte
Souveränität der menschlichen Vernunft unläugbar sei.
Völlig entgegengesetzten Zielen strebte das in denselben
Jahren losbrechende Treiben in der katholischen Kirche zu.
Ihre Verfolgung durch die französische Revolution, ihre Be-
drückung durch den ersten Napoleon hatte ihr die Neigung
aller Leidensgenossen zugewandt; in den drangsalvollen Kriegs-
jahren hatten Millionen wieder den religiösen Trost zu suchen
gelernt: so war im Bewußtsein dieser günstigen Lage gleich
nach der Restauration in Frankreich und Italien die Tendenz
erwacht, die alte Herrschermacht der Kirche und des Papstes
über die fündige Welt zu neuer Geltung zu bringen. Wie
einst Gregor VII. erklärt hatte, daß die seit 400 Jahren an-
erkannten und geübten Staatshoheitsrechte über die äußern
Ordnungen der Kirche ein Frevel gegen Gottes Gebote
seien, so verkündete jetzt eine eifrige Partei, vor Allem getragen
durch die Gesellschaft Jesu, den gleichen Satz, unbekümmert
darum, daß in allen Staaten Europas jene Aufsichts= und
Hoheitsrechte der weltlichen Obrigkeit längst wieder in weiterem
oder engerem Umfange Platz gegriffen und überall die An-
erkennung oder Zulassung durch die Curie gefunden hatten.
Auf ihr Banner schrieb die Partei die Forderung der Freiheit
der Kirche, eben der Kirche, welche von jeher die Religions-
freihcit geläugnet, den Glaubenszwang zu einem ihrer höchsten