98 Thronbesteigung Friedrich Wilhelm's IV. in Preußen.
die Herzen seines Volkes; in seinen letzten Lebensjahren ver-
stand es sich bei allen Parteien von selbst, daß man dem
würdigen Herrn die Ruhe des Greisenalters nicht stören dürfe,
und so viele Hoffnungen auf den bevorstehenden Thron-
wechsel gesetzt wurden, ging doch, als die ernste Stunde
schlug, ein Gefühl aufrichtiger Trauer durch das ganze Land.
Wenn jetzt sein Volk keinen Grund mehr für die Zurück-
haltung aller politischen Wünsche fand, so war auch sein
Thronfolger, König Friedrich Wilhelm IV., höchst geeignet,
Leben und Bewegung in die Verhältnisse zu bringen. Schon
als Knabe hatte er ein starkes Selbstbewußtsein und festen
Eigenwillen gezeigt; er war hoch begabt mit Anlagen und
Interessen jeder Art, durch seine Erzicher von früh an auf
religiöse, ästhetische und intellectuelle Entwicklung gerichtet:
so erschien er als Erwachsener kenntnißreich und geschmackvoll,
von sprudelndem Geiste und mannigfaltigem Talent, dabei
durch und durch sittenrein, gefühlsweich und von leicht erreg-
baren Affecten, immer aber enthusiastisch bei jeder hohen und
edlen Aufgabe, und erfüllt von warmem Vertrauen auf Gott
und die Menschen. Wo er einmal eine Überzeugung ge-
wonnen hatte, stand sie unerschütterlich in seinem Innern
fest; kam er in den Fall, sie praktisch durchzusetzen, so scheute
er leicht vor muthiger Durchbrechung der Hindernisse zurück,
schien für den Augenblick zu verzichten, blieb aber auf seinem
Sinne, und nahm bei erster Gelegenheit den mißlungenen
Versuch wieder auf. Seine Willenskraft war mehr passiv als
activ, mehr zähe als energisch, sein Handeln überall weniger
durch praktische Verständigkeit als durch Wärme des Herzens
und allgemeine Doctrinen bestimmt. Auffallend war bei diesem
Sohne des Hohenzollernstammes das relative Zurücktreten