J.
Wir wissen ungefähr, wann die Deutschen in ihre heutigen
Wohnsitze gelangt und damit in das Culturleben Europas
eingetreten sind: wann eine deutsche Nation als politisches
Gemeinwesen zu leben und zu wirken begonnen hat, ist nicht
so leicht zu sagen.
In den ältesten Zeiten erscheint bei den Deutschen. keine
Spur eines nationalen Bewußtseins. Die einzelnen kleinen
Völkerschaften stehen bald freundlich, bald feindlich zu ein-
ander, zersetzen sich in ihre Bestandtheile oder vereinen sich
für den Augenblick zu größeren Massen, verschmelzen dabei
mit Stammverwandten oder mit Stammfremden, und gehen
wieder auseinander, wie eben die äußern Umstände es mit
sich bringen. Festen Bestand haben nur die engsten Verbände,
das Geschlecht, die Gemeinde, das Gefolge, wo im täglichen
Zusammenleben das gemeinsame Interesse, die Gemeinschaft
des Bluts und des Geschicks sich ununterbrochen der sinn—
lichen Wahrnehmung aufdrängt. Es sind starke, eigenwillige
Naturen, die nur mit ihres Gleichen sich vertragen, und sich
von der kleinsten Verschiedenheit ebenso abgestoßen fühlen
wie von der größten. Halten sie einmal in Masse zusammen,
so sind sie jedem Widersacher überlegen, aber wie Tacitus
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