172 Nationalversammlung und Reichsverweser. 1848
modellirtes Gesicht, lebhafte Augen unter mächtigen Brauen,
eine klangvolle, tiefe Stimme gaben seiner Erscheinung den
Ausdruck einer zur Herrschaft berufenen Natur. Selbstlos
und im Innersten bescheiden, war er durch Pflichtgefühl auf
hohe Ziele gerichtet und zugleich bereit und fähig, bei jeder
Rede und jeder That die ganze Wucht seiner Persönlichkeit
einzusetzen. Damit gewann er im Parlamente, wo er übrigens
sich stets auf die wichtigen Augenblicke aufzusparen verstand,
die fortreißende Kraft, welche dem Erscheinen eines in sich
festen Charakters inne wohnt. Einen großen Redner kann
man ihn sonst nicht nennen; dazu fehlte ihm die Vielseitigkeit
der Mittel: Gewandtheit der Dialektik, Witz, Ironie waren
ihm versagt; sein Instrument hatte nur eine einzige Saite,
ein fast unwiderstehliches, man möchte sagen, dröhnendes
Pathos. Daß überhaupt seine sittliche Stärke größer und
wirksamer als seine geistige Begabung war, hat er selbst un-
umwunden ausgesprochen. Er war klug, gebildet, und im
einzelnen Moment nicht ungeschickt. Aber er war langsames
Geistes und arbeitete sich mühsam zu klarer Auffassung
größerer Angelegenheiten empor; ihm fehlte die staatsmännische
Gabe, die Dinge richtig zu sehen und danach ihre Folgen
zu bemessen. So ist es ihm bei der sichersten Überzeugungs-
treue in jedem Abschnitt seiner Laufbahn, nicht erspart ge-
blieben, mehr als einen Wechsel in seinen Anschauungen zu
erleben, und zuletzt ein eifriger Widersacher seiner eigenen
früheren Schöpfungen zu werden.
Damals aber, am 19. Mai, stand er im Morgenroth
des aufgehenden deutschen Staats#) an der Spitze des ersten
1) Gustav Freytag, Leben Mathy's.