Full text: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Erster Band. (1)

24 Die litterarische Entwicklung. 
traf in dichterischen und philosophischen Leistungen unsere 
Koryphäen? Hier im Anblick von Klopstock's, Lessing's und 
Goethe's Schöpfungen, erinnerte sich das politisch zerrissene 
Volk an den unverwüstlichen Kern seiner geistigen Einheit 
und Zusammengehörigkeit. Holsteiner und Schwaben, Franken 
und Sachsen fühlten sich geeinigt in den gleichen Geistes- 
kämpfen, in dem gleichen Sturm und Drang, in der Ver- 
werfung alles Gemachten und Conventionellen, in dem leiden- 
schaftlichen Emporstreben zur echten Natur, der Quelle aller 
Wahrheit und Schönheit. Mochte König Friedrich nach seinem 
classisch gebildeten Geschmacke noch so unwillig die Werke der 
neuen deutschen Zeit als Plattheiten und Albernheiten bezeich- 
nen: hier ließ ihn sein Volk im Stich. In dessen Kreisen 
entfaltete Lessing seine Kraft; die preußische Jugend erfüllte 
die Hörsäle Kant's und Fr. August Wolf's, und das Berliner 
Publicum drängte sich zu den Aufführungen, damals des Götz, 
wie etwas später der Schiller'schen Dramen, mit dankbarem 
Entzücken. Auf diesem Gebiete gab es zwischen Preußen 
und dem übrigen Deutschland keine Schranke mehr. 
Aber aus diesem schönen Gefühle geistiger Gemeinschaft 
wuchs kein Gedanke an ihre politische Verkörperung hervor. 
Gewiß, es fehlte nicht an bitterer Unzufriedenheit mit 
den bestehenden Staatseinrichtungen, die Ohnmacht Deutsch- 
lands in Europa, die Nichtigkeit des Kaiserthums, das erbärm- 
liche Treiben des Regensburger Reichstags, die harte Willkür 
mancher Fürsten, der dumme Hochmuth vieler Edelleute, das 
Alles wurde schmerzlich empfunden, und in politischen Schriften, 
Oden und Dramen energisch an den Pranger gestellt. Je 
mehr man sich des innern Werthes der deutschen Nation 
bewußt geworden, desto unerträglicher schien der Widerspruch
	        
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