1866 Thiers' Rede gegen Deutschlands Einheit. 369
davon am 3. Mai Anlaß zu einer seiner großen Reden, in
welcher er mit der ganzen Wucht seiner meisterhaften Klarheit
und geschlossenen Beweisführung, allerdings aber auch mit
einer schamlosen Verfälschung der weltkundigsten Thatsachen,
das bisherige Verfahren der kaiserlichen Regierung in der
dänischen und deutschen Sache verurtheilte. Nimmermehr
dürfe Deutschland zur politischen Einheit gelangen; seine Zer-
splitterung sei ein alter Satz des europäischen Staatsrechts
und die Bedingung des französischen Übergewichts in Europa;
Preußens Zweck gehe aber unverkennbar auf die Schöpfung
der deutschen Einheit durch einen siegreichen Krieg gegen
Osterreich; den Ausbruch dieses Kriegs unmöglich zu machen,
sei also die erste Pflicht jedes französischen Patrioten; wie die
Dinge lägen, bedürfte es dazu gar nicht einmal einer französi-
schen Rüstung oder einer unmittelbaren Bedrohung Preußens;
es sei ganz ausreichend, wenn Frankreich den Italienern, welche
ihm ihr politisches Dasein verdankten, jede Theilnahme an
einem so verwerflichen Kriege verböte; dann würde Preußen
keine Schilderhebung wagen, und das Gleichgewicht Europas,
wie es die Verträge von 1815 festgestellt, gesichert sein.
Ein wahrer Beifallssturm auf allen Bänken, der Mini-
steriellen wie der Opposition, begleitete den ganzen Verlauf
dieser Rede. Thiers hatte Frankreich aus der Seele ge-
sprochen. Trotzdem war Napoleon in der Hauptsache nicht
erschüttert. Nach wie vor wollte er Venetien befreien und
dafür Italiens Verzicht auf Rom erkaufen; nach wie vor
wollte er demnach den Ausbruch des Kriegs nicht verhindern,
sondern herbeiführen. Aber freilich schien es klar, daß er
der nationalen Abneigung gegen eine solche Politik nur dann
zu trotzen wagen durfte, wenn er als Ergebniß derselben
v. Sybel, Begründung d. deutschen Reiches. IV. 24