Kriegsbriefe 1915 221
abgesehen davon, daß ich nicht mehr die Nerven für einen großen Kampf
habe. Änderung der Kabinettswirtschaft kann nur eintreten nach einem großen
Unglück, und davor wolle Gott Deutschland bewahren. Im Frieden nachher
werden freilich die Geister aufeinanderplatzen.
Charleville, 2. I.
Die Schicht um den Kaiser ist zurzeit noch undurchdringlich. Es ist eben
die Eigenart vom Kaiser, er will keinen Entschluß fassen und keine Verant-
wortung tragen. Er soll zu Müller schon mehrmals gesagt haben: „nun
müsse aber die Flotte mal etwas machen,“ aber zum Entschluß ist er nicht zu
bringen, und mir gegenüber weicht er einfach aus, obgleich ich ihn harangiere,
wo und wann ich nur kann. Müller hat eine große Verantwortung vor
unserem Lande, aber ich glaube, er weiß es kaum. Er bestärkt den Kaiser,
sich nur an den ihm untertänigen Pohl zu halten. Dagegen hilft keine Ge-
walt meinerseits, es sei denn bei einem großen Unglück.
Charleville, 3. I.
Ich teile deinen Glauben an unser Volk, aber die Gefahr liegt nahe, daß
wir erst durch eine Revolution durchmüssen, an Stelle der Evolution.
Charleville, 18. III.
Die Lage wird bei Bethmann und in der Hydra überhaupt ungünstig be-
urteilt. Man hofft jetzt auf ein Zusammenbrechen Frankreichs. Ich bin der
Ansicht, daß wir die Zähne zusammenbeißen müssen, das ist der einzige Weg.
Wie war es denn mit Fridericus Rex nach Kunersdorf? Und ein solches
haben wir jetzt noch nicht erlebt. Bethmann, Jagow und ihr Gefolge machen
aber nach allen Seiten flau, nur aus Gründen der inneren Politik,
das wird aber nach außen bekannt und wirkt gefährlich.
Charleville, 22. III.
Heut abend ist Diner bei S. M. zu Ehren des Geburtstages weiland Kaiser
Wilhelms I. Bachmann hatte darauf aufmerksam gemacht, daß jetzt ein großer
Teil der englischen Flotte vor den Dardanellen sei und der Ubootskrieg sehr
viele leichte Streitkräfte absorbierte. Wenn man etwas machen wollie, so
wäre also jetzt eine gute Zeit. Pohl entrüstet über eine solche Zumutung.
dächte nicht daran, etwas zu tun, dagegen wolle er sich noch mehr mit Minen
einkapseln. Es ist hoffnungslos. Da liegt eine Flotte von 40 gepanzerten
Schiffen, davon mehr als die Hälfte Überdreadnoughts, über 100 Torpedo-
boote, und verrostet im Hafen, während Deutschland in einem Existenzkampf
sich befindet. Ich sitze dabei hier und bin machtlos. Wenn das nur die einzige
Schuld des Kabinettssystems wärel Ich habe aber diese Ziellosigkeit, diese
Fanfaren dabei jetzt seit zwei Jahrzehnten miterlebt und gesehen, wie jedes
Ressort für sich arbeitet, alles sich an „Ihn“ drängt, dem man den Glauben
beibringt, alles selbst zu machen, und von dem so große Vorteile ausgehen.
— Byzanz! Und nun haben wir diesen furchtbaren Krieg und dasselbe Durch-
einander und dieselbe Ziellosigkeit, vom Gesamtstandpunkt aus gesehen. In