Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Letzter Besuch 65 
lichen Tafel häufige Anekdötchenunterhaltung geführt. Immer wenn 
Bismarck von Politik anfing, vermied es der Kaiser darauf zu achten. 
Moltke flüsterte mir zu: 
„Es ist furchtbar!“ — Wir empfanden es im Augenblick als Mangel 
an Ehrfurcht vor solchem Manne; vielleicht hatte der Kaiser sich aber 
vorgenommen, bei dieser Zusammenkunft außenpolitische Fragen nicht 
zu erörtern. — Da sprach Bismarck aus irgend einem Zusammenhang 
heraus ein Wort, das sich uns in seiner prophetischen Schwere eingrub: 
„Majestät, solange Sie dies Offizierskorps haben, können Sie sich frei- 
lich alles erlauben; sollte das nicht mehr der Fall sein, so ist es ganz 
anders.“ An der scheinbaren Nonchalance, mit welcher das herauskam, 
als ob nichts darin läge, zeigte sich eine großartige Geistesgegenwart; 
daran konnte man den Meister erkennen. 
Als wir aufbrachen, begleitete der Fürst den Kaiser im Rollstuhl bis 
an die Türe und dann nahmen wir einzeln Abschied. Bismarck verab- 
schiedete sich freundlich von Bülow, von Miquel und anderen. Vor 
mir kam der Kabinettschef v. Lucanus daran, der 1890 bei Bismarcks 
Entlassung mitgewirkt hatte. Er versuchte dem Fürsten die Hand zu 
geben und einen Bückling zu machen. Da entwickelte sich ein merk- 
würdiges Schauspiel, das von gewaltigem Eindruck war. Der Fürst 
saß da wie eine Statue, kein Muskel rührte sich, er sah ein Loch in 
die Luft, und vor ihm zappelte Lucanus. Der Fürst drückte an sich 
nichts aus, es lag keine Abneigung in seinen Zügen, aber er war unbe- 
wegliche Maske, bis Lucanus begriff und sich entfernte. Dann kam ich, 
und nach mir mein treuer Kapitän v. Heeringen. Der war so hingerissen 
(er war ein temperamentvoller Herr), daß er sich hinunterbückte und 
dem Fürsten die Hand küßte. Ich freute mich darüber; ich hatte auch 
versucht, dem Fürsten etwas zu fühlen zu geben, soweit man es kann, 
aber die Handlung des Herrn v. Heeringen war stärker. Da nahm der 
Fürst Heeringens Kopf und küßte ihn auf die Stirn. 
Das ist meine letzte Erinnerung an Bismarck. 
Tirvitz, Erinnerungen 5
	        
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