Neuntes Kapitel
Unter dem Kaiser
Bei der schier unermeßlichen Fülle von Liebe, Verehrung und ver-
fassungsmäßiger Macht, welche Wilhelm I. seinem Enkel hinterlassen
hatte, war der Kaiser die entscheidende Persönlichkeit, von der das
Gelingen des großen Versuches abhing, Deutschland geistig und materiell
eine selbständige Geltung neben dem die Welt polypengleich erraffenden
Angelsachsentum zu erringen. Kaiser Wilhelm II. hatte die Notwendigkeit,
hiernach zu streben, schon zur Zeit der Erkrankung seines Vaters er-
kannt, wie ich bei der Überfahrt zum Jubiläum der englischen Königin
sehen konnte. Seine Gedanken umfaßten schon damals alle mit der
See zusammenhängenden Lebensbedingungen Deutschlands.
Während aber die Geschäftsgebarung unter unserem unvergeßlichen
alten Kaiser sich durch Klarheit und Festigkeit charakterisierte, war
das, was bei Kaiser Wilhelm II. mehr in den Vordergrund rückte, die
Anregung. Bei seiner schnellen Auffassungsweise, seiner durch Ein-
zeleindrücke leicht ablenkbaren Phantasie und seinem Selbstbewußt-
sein lag die Gefahr nahe, daß unverantwortliche Einflüsse Impulse
auslösten, die auszuführen unmöglich oder doch nicht im Einklang mit
dem Gesamtvorgehen gewesen wäre. Für einen Mann in gehobener
Stellung wird es stets eine schwierige innere Lebensarbeit bleiben, den
Augenblickserfolg vom dauernden zu trennen. Denn verführerisch und
niemals ganz trennbar spielt in das Wesenhafte das nur Dekoratibve
hinein:
„Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt?
Das Wesen, wär“ es, wenn es nicht erschiene?“
Nun war aber Tatsachensinn die vornehmste Bedingung für das Gelingen
des großen Versuches, und da der Kaiser mich als Gehilfen gewählt
hatte, so erwuchs mir die persönliche Pflicht, die Stetigkeit des Kurses,
den wir steuerten, zu wahren. Das lag an sich in meiner Natur. Man
wird aber vielleicht verstehen, daß diese Pflicht unter den gegebenen