Full text: Auswahl für das Feld.

Phrasen der Tendenzlyrik mißachten, und jener schlichte Sinn für 
das Wahre, welcher das köstlichste Gut der Gegenwart bildet, 
wandte sich mit Ekel von poetischen Gestalten, die kein eigenes 
Leben lebten, nur das Mundstück waren für des Dichters poli— 
tische Meinungen. Doch die alte Begeisterung der Deutschen für 
das Schöne ist nicht wiedererwacht; dem starken und tiefsinnigen 
Dichtergenius fällt in unseren Tagen ein unsäglich hartes Los. 
Wir wollen nicht allzubitter beklagen, daß die gesamte Lyrik 
heute lediglich von den Frauen gelesen wird, nur selten ein Mann 
von Geist in verschämter Stille an seinem Horaz oder an Goethes 
römischen Elegien sich erquickt: die Härte, der Weltsinn, die Auf— 
regung des modernen Lebens verträgt sich wenig mit lyrischer 
Empfindsamkeit. Und wenn in sehr zahlreichen und sehr ehren— 
werten Kreisen ein junger Mann, von dem man nur weiß, er sei 
ein Poet, mit verhaltenem Lachen empfangen wird, wenn man 
von ihm erwartet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand 
und Willenskraft erst erweisen, das wir bei allen anderen Sterb— 
lichen voraussetzen: so sehen wir keinen Anlaß, sentimental und 
verstimmt zu werden ob dieser notwendigen Folge der poetischen 
Uberproduktion. Aber versuchet, in einem Kreise gebildeter Män— 
ner die triviale Wahrheit zu verfechten, daß die Kunst für ein 
Kulturvolk täglich Brot, nicht ein erfreulicher Luxus sei — und 
Widerspruch oder halbe Zustimmung wird euch lehren, wie arg 
der Formensinn verkümmert ist in diesem arbeitenden Geschlechte. 
Es ist nicht anders, der ungeheuren Mehrzahl unserer Männer 
gilt die Kunst nur als eine Erholung, gut genug einige müde 
Abendstunden auszufüllen. Wir widmen, was von Idealismus 
in uns liegt, dem Staate, uns bedrückt eine Geschäftslast, welche 
die älteren Geschlechter unseres Volkes nie für möglich gehalten 
hätten, wir wissen den Wert der Zeit so genau zu schätzen, daß 
der ruhige briefliche Gedankenaustausch unter tätigen Männern 
fast ganz aufgehört hat und selbst unser geselliger Verkehr überall 
die Spuren hastiger Unruhe zeigt. Eine solche ganz nach außen 
gerichtete Zeit sucht in der Kunst die Ruhe, die Abspannung. 
276
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.