Full text: Auswahl für das Feld.

Welt zu trotzen und offen ein Band zu lösen, das für die Seelen 
nicht mehr besteht. 
Doch wie? Ist dies Geschlecht wirklich so tief gesunken? Steht 
es so gar jämmerlich um die innere Freiheit der Menschen, wie 
es nach diesen bedenklichen und unleugbaren Erscheinungen der 
Gegenwart scheinen sollte? Man muß sehr unerfahren sein in den 
Geheimnissen der Menschenbrust, um auf einem Gebiete, das 
der unberechenbaren Macht der Selbsttäuschung einen unermeß- 
lichen Spielraum gewährt, einfach mit den Vorwürfen der Lüge 
und der Gleisnerei hervorzutreten. Und noch weniger wird ein 
besonnener Kenner der Geschichte die schlichtfriedliche Anhäng- 
lichkeit an die Gebräuche der Bäter kurzerhand als Trägheit ver- 
dammen. Denn die ganze Bewegung der Geschichte besteht in 
einer fortwährenden Ausgleichung und Versöhnung zwischen den 
gleichberechtigten Mächten des Beharrens und der fortschreitenden 
Geistesfreiheit. 
Wirklich erklärt aber wird die befremdende Tatsache, daß in 
diesen hellen Tagen der Kritik der große Mittelschlag der Men- 
schen am Leben der Kirche mit offenbar geringerer geistiger Reg- 
samkeit teilnimmt, als vor dreihundert Jahren, nur durch die 
andere Tatsache, daß die helleren Köpfe unseres Volkes dem reli- 
giösen Meinungsstreite bereits entwachsen sind. Und dies gerade 
verbürgt uns den schließlichen unvermeidlichen Sieg der Ideen 
der Duldung, der inneren Freiheit. Nur wenige unserer Denker 
sind erfüllt von Verbitterung gegen das, was sie den falschen 
Idealismus der Theologen nennen. Die meisten leben der klaren, 
ruhigen Meinung: wie gebrechlich immer die Einrichtung der Welt, 
so gebrechlich ist sie nicht, daß der sittliche Wert des Menschen von 
Dingen abhängen sollte, die ein fester Wille, ein besonnenes 
Denken nicht bemeistern kann. Sie haben erfahren, daß von allen 
Meinungskämpfen allein der Streit über religiöse Fragen not- 
wendig zur Verbitterung und Gehässigkeit führt. So sind sie zu 
jener Auffassung der Religion emporgehoben worden, welche allein 
eines freien Mannes würdig ist. Sie erkennen: religiöse Wahr- 
32
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.