Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichbtag. — 198. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
(Prin Max von Baden, Reichskanzler.) 
(A) uns zur Wehr zu setzen mit der ganzen Kraft eines Volkes, 
das man zum Außersten treibt. Wenn diese Notwendigkeit 
eintritt, so habe ich keinen Zweifel, daß die deutsche Re- 
gierung im Namen des deutschen Volkes zur nationalen 
Verteidigung aufrufen darf, wie sie im Namen des deutschen 
Volkes sprechen durfte, als sie für den Fricden handelnd 
eingriff. 
(Bravo!) 
Wer sich ehrlich auf den Boden des Rechtsfriedens ge- 
stellt hat, der hat zugleich die Pflicht übernommen, sich 
nicht kampflos einem Gewaltfrieden zu beugen. 
(Lebhafte Zustimmung.) 
Eine Regierung, die hierfür kein Empfinden hat, wäre der 
Verachtung des kämpfenden und arbeitenden Volkes preis- 
gegeben. 
(Sehr richtig!) 
ge „würde vom Zorn der öffentlichen Meinung weg- 
gefegt. 
Aber, meine Herren, auch die zweite Möglichkeit 
müssen wir schon heute in in ihrer ganzen Tragweite ins 
Auge fassen. Das deutsche Volk darf nicht blind an den 
Verhandlungstisch geführt werden. Die Nation hat heute 
ein Recht, die Frage zu stellen: wenn nun ein Friede auf 
der Basis der Wilsonschen Bedingungen zustande kommt, 
was bedeutet das für unser Leben und für unsere Zukunft? 
Erst unsere Antwort auf die Fragen des Präsidenten hat, 
nach dem Widerhall der öffentlichen Meinung zu schließen, 
dem deutschen Volke zum Bewußtsein gebracht, um was 
es sich handelt. Jetzt will es Klarheit haben. 
Ja, meine Herren, es ist ein Entschluß von gewal- 
tiger Tragweite für unsere Machtstellung. Es soll nicht 
mehr gelten, was wir selbst für recht halten, sondern 
was in freier Aussprache mit unseren Gegnern als Recht 
erkannt wird. Eine schwere Uberwindung für ein stolzes 
und sieggewohntes Volk! Denn die Rechtsfrage macht 
(8) nicht Halt vor unseren Landesgrenzen, die wir der Gewalt 
niemals freiwillig öffnen würden: die Sätze, die wir als 
für uns maßgebend angenommen haben, berühren auch 
Probleme innerhalb des Reichsgebiets. 
Meine Herren, mir ist von vielen Seiten entgegen- 
gehalten worden, daß die Annahme der Wilsonschen Be- 
dingungen die Unterwerfung unter ein Deutschland feind- 
liches Tribunal bedeuten würde, das die Rechtsfrage 
ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eigener Interessen 
entscheiden würde. Wenn dem so wäre, warum scheuen 
denn dann gerade die extremen Machtpolitiker in der 
Entente das Verhandlungszimmer wie der Schuldige das 
Gericht? Der Kernpunkt des ganzen Wilsonschen Pro- 
gramms ist der Bölkerbund. Er kaun gar nicht zustande 
kommen, wenn nicht sämtliche Völker zur nationalen 
Selbstüberwindung sich aufraffen. 
(Sehr richtig!) 
Die Realisierung der Rechtsgemeinschaft verlangt das 
Aufgeben eines Teils der unbedingten Selbständigkeit, die 
bisher das Zeichen der Staatshoheit war, von uns wie 
von den anderen. 
» (Sehr richtig!) 
Für unsere ganze Zukunft wird es von entscheidender 
Bedeutung sein, in welchem Geist wir dieser notwendigen 
Entwicklung folgen. Verharren wir innerlich auf der 
Basis des nationalen Egoismus, der bis vor kurzer Zeit 
die herrschende Kraft im Leben der Völker war, dann, 
meine Herren, gibt es für uns keine Wiederaufrichtung 
und Erneuerung. 
Z (Sehr richtig!) 
Dann bleibt ein Gefühl der Bitterkeit, das uns für 
Generationen lahm legen würde. Aber wenn wir ein- 
gesehen haben, daß der Sinn dieses furchtbaren Krieges 
vor allem der Sieg der Rechtsidee ist, und wenn wir uns 
dieser Idee nicht widerstrebend unterwerfen, nicht mit 
  
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inneren Vorbehalten, sondern mit aller Freiwilligkeit, so“ 
finden wir darin ein Heilmittel für die Wunden der 
Gegenwart und eine kust set die Kräfte der Zukunft. 
eifall. 
An dieser Aufgabe wird das deutsche Volk mit allem 
sachlichen Ernst und aller Gewissenhaftigkeit mitarbeiten, 
die unser Erbteil sind. 
Meine Herren, wir brauchen bloß auf Zeit vor zwei 
Generationen zurückzugreifen, um alle notwendigen mora- 
lischen Triebfedern für die neue Entwicklung vorzufinden. 
Sind aber einmal diese Menschheitsziele unser, so wird 
uns die Zusammenarbeit der Nationen zu der großen be- 
freienden Aufgabe. Ich möchte hier meine Worte zitieren 
dürfen, die ich am 19. Februar sagte: „Der bloße Daseins- 
kampf, wenn er allein steht, läßt große menschliche Kraft- 
quellen unerschlossen. Wir müssen das Glück und das 
hecht anderer Völker in unseren nationalen Willen auf- 
nehmen.“ 
Wenn ich heute in dieser schweren Stunde unserem 
Volke den Völkerbundsgedanken als eine Quelle des 
Trostes und neuer Kraft vor Augen stelle, so will ich 
keinen Augenblick darüber hinwegtäuschen, welche ge- 
waltigen Widerstände noch zu überwinden sind, ehe der 
Gedanke Wirklichkeit werden kann. Kein Mensch kann 
sagen, ob das rasch oder langsam geschehen wird. 
Mögen uns die nächsten Tage oder Wochen zu 
weiterem Kampfe aufrufen oder mag sich der Weg zum 
Frieden öffnen: darüber kann kein Zweifel sein, daß wir 
den Aufgaben des Krieges oder des Friedens nur ge- 
wachsen sein werden durch die Durchführung des Re- 
gierungsgrogramms und die entschiedene Abkehr dom 
alten System. 
(Sehr wahrl) 
Damit aber, meine Herren, bin ich zu den Fragen 
der inneren Politik gekommen, über die ich der deutschen 
Volksvertretung Rechenschaft schuldig bin. Meine Herren, 
ich habe Ihnen schon am 5. Oktober die allgemeinen 
Grundsätze dargelegt, nach denen ich mein Amt als Kanzler 
zu führen gedachte, und mich dabei mit dem Programm 
der Mehrheitsparteien auseinandergesetzt, deren Vertrauen 
meinen Eintritt in dies Amt gestattete. Durch diese 
Grundsätze geleitet, habe ich mit meinen. Mitarbeitern die 
Schritte getan, die im Innern Deutschlands freiheitliche 
Zustände herbeiführen sollen und über die ich nun zu 
berichten habe. 
Die Reform des Wahlrechts in Preußen ist durch 
ein dankenswertes Entgegenkommen der Parteien auf die 
Vorschläge der Regierung so weit gefördert worden, daß 
die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und 
geheimen Wahlrechts dort gesichert ist. 
abol) 
Dem Reichstag liegen zwei Gesetzentwürfe vor, die 
unsere neue Regierungsweise von den verfassungsmäßigen 
Schranken befreien sollen, die ihr noch im Wege stehen. 
Der erste Entwurf will für die Mitglieder dieses 
hohen Hauses die Möglichkeit schaffen, in die Reichsleitung 
einzutreten, ohne ihr Reichstagsmandat zu verlieren. Das 
ist unerläßlich, wenn die Verbindung zwischen dem Par- 
lament und den obersten Reichsbehörden so fest bleiben 
soll, wie die gemeinsame Arbeit und das gegenseitige 
Vertrauen es erfordern. 
(Sehr richtig!) 
Der Entwurf schlägt ferner eine Anderung des Ge- 
setzes über die Stellvertretung des Reichskanzlers vor. 
Bisher konnten nur die Leiter der obersten Reichsbehörden 
Stellvertreter des Reichskanzlers werden, in Zukunft sollen 
sich Reichstagsabgeordnete an der Leitung der Reichs- 
politik beteiligen und namens des Reichskanzlers Rede 
stehen können, ohne zugleich ein Ressort übernommen zu 
haben. Damit ist ein neuer Weg geöffnet, um zur ver- 
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