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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918.
(Ebert, Abgeordneter.)
nicht aufrechterhalten, die es zur Folge hatte. So er-
eulich es ist, daß die erste Maßnahme der neuen Regierung
ie Durchsetzung der Amnestie war, so müssen wir doch
verlangen, daß die Amnestie vollständig und restlos ist.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Sie muß den Verurteilten der ordentlichen Militärgerichte
ebenso zugute kommen wie denen der Zivilgerichte und
der außerordentlichen Militärgerichte.
Meine Herren, ich kann erfreulicherweise auf die
Partie meiner Rede, die den Fall Liebknecht behandeln
sollte, verzichten, weil mir kurz vor Beginn meiner Rede
mitgeteilt worden ist, daß Liebknecht bereits in Freiheit ist.
(Bravo! bei den Sozialdemokraten.)
Aber ich muß doch hinweisen auf die unglücklichen Matrosen,
die wegen Unbesonnenheiten zu schweren Strafen verurteilt
worden sind.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Auch ihnen muß die Amnestie gerecht werden. Die natür-
liche Folge der Amnestie muß unseres Erachtens sein,
daß auch die Verurteilten in den besetzten Gebieten ein-
geschlossen werden, daß die schwebenden Verfahren ein-
gestellt und die Opfer der Schutzhaft befreit werden.
Besonders wünsche ich, daß die immer noch aus
ihrem Lande verbannten Elsaß-Lothringer baldigst in ihre
Heimat zurückkehren können. Eine neue Zeit muß einen
neuen Glauben an eine neue Gerechtigkeit wecken. Aber
die Regierung muß auch Sorge tragen, daß den überaus
rigorosen Bestrafungen in den besetzten Gebieten überhaupt
Einhalt geboten wird.
(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.)
So hat zum Beispiel die „Litauische Zeitung“ vom
27. September gemeldet, daß wegen Abhaltung einer
verbotenen Versammlung und Verbreitung unrichtiger Nach-
richten vom dortigen Feldgericht des Generalkommandos
eine Anzahl Personen zu schweren Strafen, teils zu
(B) 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden sind.
(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.)
Solch unerhörte grausame Urteile müssen in der ganzen
gesitteten Welt einen Schrei der Entrüstung auslösen.
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)
Sie müssen den deutschen Namen aufs schwerste schänden.
Ich muß weiter in diesem Zusammenhange hinweisen
auf die kürzlich aus Helsingfors gemeldeten schweren
Verurteilungen sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter
in Finnland. Sechs sollen zum Tode, andere zu lebens-
länglichem Gefängnis verurteilt sein. Hier handelt es
sich zweifellos um brutale Klassenurteile. Ich weiß
wohl, daß wir in Finnland nicht entscheidend sind, aber
wir haben Einfluß dort. Deshalb richte ich namens
meiner Freunde an die Regierung das dringende Ersuchen,
soweit wie möglich sich entschieden dafür einzusetzen, daß
diese grausamen Strafen nicht vollstreckt werden. Sofortiges
Eingreifen ist hier ein Gebot der Menschlichkeit.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Meine Herren, soviel von den dringenden Aufgaben
des Augenblicks. Zu einem vollständigen Programm der
nächsten Aufgaben fehlt noch viel.
Die während des Kriegs vorgenommene Reform der
Wahlkreiseinteilung zur Reichstagswahl war nur eine
kleine Abschlogszahlung. Nur das allgemeine im ganzen
Reiche durchgeführte Verhältniswahlrecht kann die Basis
einer wirklich demokratischen Volksvertretung werden.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Der heutige Zustand verfälscht das gleiche Wahlrecht.
(Sehr ltichtig! bei den Sozialdemokraten.)
Unsere Frauen durfen nicht länger mehr politisch
rechtlos sein,
(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten)
eine Erkenntnis, die in anderen Ländern längst, am deut-
lichsten aber während des Kriegs gekommen ist. Was
wäre die deutsche Heimatsfront ohne die unermüdliche (O
Arbeit der Frauen in den Werkstätten, Bureaus, in den
Krankensälen, in der weiteren Kriegsfürsorge?
(Sehr richtig! bei den Soztaldemokraten.)
Wer bewundert nicht das stille Heldentum unserer Frauen
und Mütter? Das neue Deutschland ehrt dieses Helden-
tum unserer Frauen am schönsten durch die Gewährung
der gleichen politischen Rechte.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Unsere ganze Verwaltung von oben bis unten, die Staats-
verwaltung, die Selbstoberwaltung muß auf eine neue
Grundlage gestellt werden. Überall muß der alte Junker-
geist ausgeräuchert werden, soll das neue Deutschland
Wirklichkeit werden.
Aber auch die wirtschaftliche Not unseres Volks
stellt uns vor große Aufgaben. Da ist es charakteristisch,
daß in der Schicksalsstunde unseres Volks der Bund der
Landwirte in einem Aufruf die Organisation unserer
Volksernährung als sozialdemokratische Zwangswirtschaft
zu diskreditieren sucht und verlangt, daß mit ihrem Abbau
begonnen wird. Die Herren mögen sich nicht täuschen
über die Stimmung des Volks: Vor allem soll man sich
hüten vor wirtschaftlicher Sabotage der Volksernährung
unter der neuen Demokratiel
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Das müßte zur Katastrophe führen, die auch für die
Landwirtschaft mit den schwersten wirtschaftlichen Opfern
verbunden wäre. -
(Sehr richtigl bei den Sozialdemokraten.)
Die Sicherheit unseres Landes macht es jedem Landwirt
zur Pflicht, heute mehr denn je im Kriege sein Bestes zu
tun, um unsere Volksernährung sicherzustellen. Die Not
des Volkes erfordert schärfste Erfassung aller Nahrungs-
produkte. Beim preußischen Großgrundbesitz ist da noch
viel nachzuholen.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Der schwunghafte Schleichhandel ist der beste Beweis, wie
mangelhaft die Erzeugnisse für die öffentliche Bewirt-
schaftung erfaßt werden. Das System der Selbstver-
sorgung muß einer gründlichen Reform unterworfen
werden. Die skandalösen Wucherpreise für die notwendigen
Bedarfsartikel müssen zurückgedrängt werden, wenn die
Verhältnisse erträglich werden sollen.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. — Zuruf
rechts.)
— Auch beim Großgrundbesitz!
Meine Herren, man hat uns zum Vorwurf gemacht,
wir hätten in unserem Mindestprogramm die Sozialpolitik
vergessen. Es steht noch unendlich viel anderes nicht
darin, was auch unbedingt in ein Aktionsprogramm hin-
eingehörte. Aber wir mußten uns mit dem begnügen,
was heute und morgen getan werden kann und unbedingt
durchgeführt werden muß. Sozialpolitik im Kriege ist
ein trauriges Kapitel. Jeder Tag stellt neue und andere
Aufgaben. Jetzt, wo wir die Friedensarbeit in Fluß
gebracht haben, drängen uns die Verhältnisse die un-
geheuersten sozialpolitischen Arbeiten auf. Demobilisation
der Riesenarmeen draußen, der arbeitenden Frauenheere
drinnen; die Beschaffung von Arbeit und Brot für die
heimkehrenden Soldaten und die Arbeiter der Kriegs-
industrie; die Umstellung unserer gesamten Wirtschaft auf
die schon halb vergessene Friedenswirtschaft; die Wieder-
anknüpfung des Welthandels und Weltverkehrs; die
Wiederherstellung des gesetzlichen Arbeiterschutzes vor dem
Kriege. Hier stehen wir vor fundamentalen Aufgaben
unseres künftigen Lebens. So blöd und kurzsichtig sind
wir wahrhaftig nicht, daß wir bei Aufstellung unseres
Programms an nichts von alledem gedacht hätten. Die
Schaffung des Arbeitsamtes beweist das Gegenteil. Der
ist nie im Herzen Sozialdemokrat gewesen, der glaubt,