Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
  
(Ebert, Abgeordneter.) 
nicht aufrechterhalten, die es zur Folge hatte. So er- 
eulich es ist, daß die erste Maßnahme der neuen Regierung 
ie Durchsetzung der Amnestie war, so müssen wir doch 
verlangen, daß die Amnestie vollständig und restlos ist. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Sie muß den Verurteilten der ordentlichen Militärgerichte 
ebenso zugute kommen wie denen der Zivilgerichte und 
der außerordentlichen Militärgerichte. 
Meine Herren, ich kann erfreulicherweise auf die 
Partie meiner Rede, die den Fall Liebknecht behandeln 
sollte, verzichten, weil mir kurz vor Beginn meiner Rede 
mitgeteilt worden ist, daß Liebknecht bereits in Freiheit ist. 
(Bravo! bei den Sozialdemokraten.) 
Aber ich muß doch hinweisen auf die unglücklichen Matrosen, 
die wegen Unbesonnenheiten zu schweren Strafen verurteilt 
worden sind. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Auch ihnen muß die Amnestie gerecht werden. Die natür- 
liche Folge der Amnestie muß unseres Erachtens sein, 
daß auch die Verurteilten in den besetzten Gebieten ein- 
geschlossen werden, daß die schwebenden Verfahren ein- 
gestellt und die Opfer der Schutzhaft befreit werden. 
Besonders wünsche ich, daß die immer noch aus 
ihrem Lande verbannten Elsaß-Lothringer baldigst in ihre 
Heimat zurückkehren können. Eine neue Zeit muß einen 
neuen Glauben an eine neue Gerechtigkeit wecken. Aber 
die Regierung muß auch Sorge tragen, daß den überaus 
rigorosen Bestrafungen in den besetzten Gebieten überhaupt 
Einhalt geboten wird. 
(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) 
So hat zum Beispiel die „Litauische Zeitung“ vom 
27. September gemeldet, daß wegen Abhaltung einer 
verbotenen Versammlung und Verbreitung unrichtiger Nach- 
richten vom dortigen Feldgericht des Generalkommandos 
eine Anzahl Personen zu schweren Strafen, teils zu 
(B) 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden sind. 
(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) 
Solch unerhörte grausame Urteile müssen in der ganzen 
gesitteten Welt einen Schrei der Entrüstung auslösen. 
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) 
Sie müssen den deutschen Namen aufs schwerste schänden. 
Ich muß weiter in diesem Zusammenhange hinweisen 
auf die kürzlich aus Helsingfors gemeldeten schweren 
Verurteilungen sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter 
in Finnland. Sechs sollen zum Tode, andere zu lebens- 
länglichem Gefängnis verurteilt sein. Hier handelt es 
sich zweifellos um brutale Klassenurteile. Ich weiß 
wohl, daß wir in Finnland nicht entscheidend sind, aber 
wir haben Einfluß dort. Deshalb richte ich namens 
meiner Freunde an die Regierung das dringende Ersuchen, 
soweit wie möglich sich entschieden dafür einzusetzen, daß 
diese grausamen Strafen nicht vollstreckt werden. Sofortiges 
Eingreifen ist hier ein Gebot der Menschlichkeit. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Meine Herren, soviel von den dringenden Aufgaben 
des Augenblicks. Zu einem vollständigen Programm der 
nächsten Aufgaben fehlt noch viel. 
Die während des Kriegs vorgenommene Reform der 
Wahlkreiseinteilung zur Reichstagswahl war nur eine 
kleine Abschlogszahlung. Nur das allgemeine im ganzen 
Reiche durchgeführte Verhältniswahlrecht kann die Basis 
einer wirklich demokratischen Volksvertretung werden. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Der heutige Zustand verfälscht das gleiche Wahlrecht. 
(Sehr ltichtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Unsere Frauen durfen nicht länger mehr politisch 
rechtlos sein, 
(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) 
eine Erkenntnis, die in anderen Ländern längst, am deut- 
lichsten aber während des Kriegs gekommen ist. Was 
  
wäre die deutsche Heimatsfront ohne die unermüdliche (O 
Arbeit der Frauen in den Werkstätten, Bureaus, in den 
Krankensälen, in der weiteren Kriegsfürsorge? 
(Sehr richtig! bei den Soztaldemokraten.) 
Wer bewundert nicht das stille Heldentum unserer Frauen 
und Mütter? Das neue Deutschland ehrt dieses Helden- 
tum unserer Frauen am schönsten durch die Gewährung 
der gleichen politischen Rechte. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Unsere ganze Verwaltung von oben bis unten, die Staats- 
verwaltung, die Selbstoberwaltung muß auf eine neue 
Grundlage gestellt werden. Überall muß der alte Junker- 
geist ausgeräuchert werden, soll das neue Deutschland 
Wirklichkeit werden. 
Aber auch die wirtschaftliche Not unseres Volks 
stellt uns vor große Aufgaben. Da ist es charakteristisch, 
daß in der Schicksalsstunde unseres Volks der Bund der 
Landwirte in einem Aufruf die Organisation unserer 
Volksernährung als sozialdemokratische Zwangswirtschaft 
zu diskreditieren sucht und verlangt, daß mit ihrem Abbau 
begonnen wird. Die Herren mögen sich nicht täuschen 
über die Stimmung des Volks: Vor allem soll man sich 
hüten vor wirtschaftlicher Sabotage der Volksernährung 
unter der neuen Demokratiel 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Das müßte zur Katastrophe führen, die auch für die 
Landwirtschaft mit den schwersten wirtschaftlichen Opfern 
verbunden wäre. - 
(Sehr richtigl bei den Sozialdemokraten.) 
Die Sicherheit unseres Landes macht es jedem Landwirt 
zur Pflicht, heute mehr denn je im Kriege sein Bestes zu 
tun, um unsere Volksernährung sicherzustellen. Die Not 
des Volkes erfordert schärfste Erfassung aller Nahrungs- 
produkte. Beim preußischen Großgrundbesitz ist da noch 
viel nachzuholen. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 
Der schwunghafte Schleichhandel ist der beste Beweis, wie 
mangelhaft die Erzeugnisse für die öffentliche Bewirt- 
schaftung erfaßt werden. Das System der Selbstver- 
sorgung muß einer gründlichen Reform unterworfen 
werden. Die skandalösen Wucherpreise für die notwendigen 
Bedarfsartikel müssen zurückgedrängt werden, wenn die 
Verhältnisse erträglich werden sollen. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. — Zuruf 
rechts.) 
— Auch beim Großgrundbesitz! 
Meine Herren, man hat uns zum Vorwurf gemacht, 
wir hätten in unserem Mindestprogramm die Sozialpolitik 
vergessen. Es steht noch unendlich viel anderes nicht 
darin, was auch unbedingt in ein Aktionsprogramm hin- 
eingehörte. Aber wir mußten uns mit dem begnügen, 
was heute und morgen getan werden kann und unbedingt 
durchgeführt werden muß. Sozialpolitik im Kriege ist 
ein trauriges Kapitel. Jeder Tag stellt neue und andere 
Aufgaben. Jetzt, wo wir die Friedensarbeit in Fluß 
gebracht haben, drängen uns die Verhältnisse die un- 
geheuersten sozialpolitischen Arbeiten auf. Demobilisation 
der Riesenarmeen draußen, der arbeitenden Frauenheere 
drinnen; die Beschaffung von Arbeit und Brot für die 
heimkehrenden Soldaten und die Arbeiter der Kriegs- 
industrie; die Umstellung unserer gesamten Wirtschaft auf 
die schon halb vergessene Friedenswirtschaft; die Wieder- 
anknüpfung des Welthandels und Weltverkehrs; die 
Wiederherstellung des gesetzlichen Arbeiterschutzes vor dem 
Kriege. Hier stehen wir vor fundamentalen Aufgaben 
unseres künftigen Lebens. So blöd und kurzsichtig sind 
wir wahrhaftig nicht, daß wir bei Aufstellung unseres 
Programms an nichts von alledem gedacht hätten. Die 
Schaffung des Arbeitsamtes beweist das Gegenteil. Der 
ist nie im Herzen Sozialdemokrat gewesen, der glaubt,
	        
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