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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918.
(D. Naumann (Waldeckl, Abgeordneter.)
(A) lebten wir schon Jahre und Jahrzehnte zusammen, und
es war ein bekanntes Kunststück der regierenden geschickten
Bureaukraten, die Karten immer neu zu mischen, abheben
su lassen und dann frisch wieder auszugeben und auf
iese Weise das Haus stets in neuer Verteilung wieder
vor sich zu sehen.
(Sehr gut! links.)
Und dieses Spiel hätte noch lange fortgeführt werden
können, wenn nicht die Regierung selber mit zwei ver-
schiedenen Regierungsapparaten sich ein Zweiparteiensystem
im Regierungskörper selber zurecht gemacht hätte. Denn
es war doch so: es bestanden nicht nur zwei kämpfende
Köpfe, sondern vielmehr zwei kämpfende Apparate mit
Preßbureaus, wo eins völlig anders schrieb als das andere,
mit Zensurapparaten, vor denen kaum der Reichskanzler
sicher war, daß er nicht der Zensur verfiel, und wo man
nicht wußte, wieviel sich die Staatssekretäre noch gestatten
konnten. Wir hatten, um es offen zu sagen, zweierlei
auswärtige Politik,
(sehr richtig! links)
fast möchte ich sagen: zwei auswärtige Amter. Wir be-
behandelten fast jede Sache auf eine ganz verschiedene
Weise. Es gab z. B. den besetzten Randstaaten gegen-
über eine liberale Methode: wir kommen als die Be-
freier, wir kommen, um euch Selbstbestimmung und eigene
Staatlichkeit zu bringen. Und auf der anderen Seite
saßen nach konservativer Methode wohlgeordnete angestellte
Herren, deren Grundsatz ungefähr hieß: das okkupierte
Subjekt hat den Mund zu halten!
GGeiterkeit.)
Und während wir so seelisch und praktisch die Randstaaten
mit vollständig zweierlei Methoden behandelten, wunderten
wir uns, wenn der ausgestreute Same nicht aufgehen
wollte. Oder, um etwas anderes zu erwähnen, wir re-
deten mit den Elsässern und fragten sie: ihr seid doch gut
(B) deutsch, auch wenn es einmal ernst darauf ankommt? Ja,
aber dabei standen sie unter, ich weiß nicht wieviel Zivil-
kommandos und anderen Zwangsinstituten, und das, was
jetzt auftaucht: der elsässische Statthalter und der elsässische
Staatssekretär, was immer hätte geschehen sollen
sehr richtig! links)
und hätte geschehen können,
(sehr wahr! links)
das geschah nicht, sagen wir wegen archaistischer monarchi-
scher Spielereien und Liebhabereien,
(sehr richtig! links)
aus irgend welchem Trödel heraus, von dem man schon
heute gar nicht mehr weiß, warum und wie sich verständige
Menschen überhaupt um so etwas bemüht haben!
(Sehr richtig! links.)
Wir haben es hier erlebt, daß der vorige Reichskanzler
unter allen notwendigen Klauseln und Kautelen sagte,
es wird Belgien wieder herausgegeben und wiederherge-
stellt. Dann aber liefen draußen in Belgien und Flam-
land Männer herum, im Auftrage ebenso hoher Regierungs-
stellen, und verkündigten: das sei alles nicht ernst zu
nehmen,
(sehr richtig! links)
denn es sei ja nur ein Wort des Reichskanzlers gewesen,
(sehr richtig! links)
und die wirklich entscheidende Stelle habe doch damit das
letzte Wort selbstverständlich nicht gesprochen! Und so
haben wir es dann schließlich noch erlebt mit der Behand-
lung des großen Hauptgegenstandes überhaupt, mit dem
Frieden. Da galt hier die Resolution vom Juli 1917,
diese bekannte vielumstrittene Resolution. Der hatte der
Kaiser, der Reichskanzler, die Oberste Heeresleitung, der
Bundesrat, der Reichstag, alles zugestimmt; so wenigstens
steht es in der Note an den Papst. Das hinderte aber
nicht, daß aus dem Schoße derselben Regierung heraus
in Telegramm und Schrift und Rede immer wieder Grund= (O
sätze umgekehrter Art ausgesprochen wurden,
(sehr richtig! links)
sodaß vom Juli 1917 an bis jetzt niemand in Deutsch-
land überhaupt gewußt hat: wer ist Koch und wer ist
Kellner, ist das wahr oder nicht?!
(Zuruf.)
— Daß Sie es nicht wissen, das glaube ich, Herr Lede-
vur.
(Geiterkeit — und Zurufe von den Unabhängigen
Sozialdemokraten.)
— Herr Ledebour, Sie kommen nachher daran! Indem
also das bisherige Regierungssystem es grundsätzlich nicht
in sich fertiggebracht hat, eine regierende Einheit zu sein,
verschwand im Volke das Gefühl irgend einer festen und
sicheren Führung, und es entstand im Ausland immer der
Eindruck, die Deutschen sind unehrlich. Nein, unehrlich
sind die Deutschen nicht gewesen, weder die auf dieser
Seite, noch die auf dieser Seite, sondern sie waren po-
litisch unorganisiert! Sie hatten nämlich in ihrem System
die Methode nicht, bei Zweiheit der Meinungen zu ent-
scheiden, welche von den beiden Meinungen die Führung
zu haben hat. Diese Entscheidung bei Zweiheit der Mei-
nungen hat tatsächlich die Monarchie nicht geleistet, und
weil das nicht geschehen ist,
(Zuruf links)
— ich sage mit Ihnen: leider — aber weil es nicht ge-
schehen ist, so entstand dann die zwingende Notwendigkeit:
es muß eine unzweifelhafte Methode da sein, um die
Einheitlichkeit zu sichern. Die Einheitlichkeit kann für
uns auf der linken Seite oder gegen uns sein. Sie kann
zu verschtedenen Zeiten — Sie warten rechts darauf —
auch einmal Ihnen zugunsten sein. Aber unter allen Um-
ständen ist die Einheitlichkeit ein erstes Grunderfordernis,
wenn überhaupt regiert werden soll.
Das zweite aber, das die bisherige Regierung mit (D)
ihrem System nicht hat leisten können, war die Verkörpe-
rung des nationalen Freiheitsgedankens.
Wir Deutschen sind ja in der Freiheitsbewegung
nicht ganz denselben Schicksalsweg gegangen, den etwa
England und Frankreich gingen. Diese haben ihre großen
Revolutionen gehabt, weil sie Monarchen besaßen, mit
denen sie im 17. und 18. Jahrhundert ihre starken Aus-
einandersetzungen durchleben mußten. Der Monarch, mit
dem sich die Deutschen als Nation zuerst auseinander-
zusetzen hatten, war ein Fremder. Es war Napoleon.
Das ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, das ist
ein Kreuzzug, ist ein heiliger Krieg. So ist damals der
Freiheitskrieg gewesen. Er war die Abhebung einer
Fremdherrschaft; und als sie abgehoben war, blieb die
alte Form der eigenen Herrschaften und somit blieb auch
in Deutschland ein ganzes Stück altertümlicher Gesinnungs-
art ebenso mit ihren positiven traulichen Charaktereigen-
schaften als auch mit ihrem Druck auf ein weiteres Jahr-
hundert. Wir gewöhnten uns, mehr Ordnungsvolk zu sein
als Freiheitsvolk. Auch das hat seine Vorzüge, Ordnungs-
volk zu sein, und jeder, der auf den Reisen im Ausland,
auch gerade in demokratischen Ländern, den Zustand der
staatlichen Ordnung und der Verkehrsordnung selber
kennen lernt, war oft sehr froh, wenn er über die Grenze
in das Ordnungsland wieder zurückgekommen ist. Aber
als einzige Charaktermarke eines Volkes die polizeiliche
Ordnung anzusehen, das reicht nicht für bewegte Zeiten,
wo die Fahrt nicht stetig geht, sondern wo sozusagen das
Eisenbahnunglück verlangt, daß jeder Mitfahrende ein Kerl
ist. In Zeiten, wie wir sie jetzt haben, ist es notwendig,
daß der Glaube an die Freiheit vorhanden ist, und zwar
ebenso bei Beamten wie bei Regierenden, bei allen mit-
einander. Wir hatten gute Beamte. Die waren vortreff-
lich erzogen und waren pflichttreu. Die sandten wir in