Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
  
(D. Naumann (Waldeckl, Abgeordneter.) 
(A) lebten wir schon Jahre und Jahrzehnte zusammen, und 
es war ein bekanntes Kunststück der regierenden geschickten 
Bureaukraten, die Karten immer neu zu mischen, abheben 
su lassen und dann frisch wieder auszugeben und auf 
iese Weise das Haus stets in neuer Verteilung wieder 
vor sich zu sehen. 
(Sehr gut! links.) 
Und dieses Spiel hätte noch lange fortgeführt werden 
können, wenn nicht die Regierung selber mit zwei ver- 
schiedenen Regierungsapparaten sich ein Zweiparteiensystem 
im Regierungskörper selber zurecht gemacht hätte. Denn 
es war doch so: es bestanden nicht nur zwei kämpfende 
Köpfe, sondern vielmehr zwei kämpfende Apparate mit 
Preßbureaus, wo eins völlig anders schrieb als das andere, 
mit Zensurapparaten, vor denen kaum der Reichskanzler 
sicher war, daß er nicht der Zensur verfiel, und wo man 
nicht wußte, wieviel sich die Staatssekretäre noch gestatten 
konnten. Wir hatten, um es offen zu sagen, zweierlei 
auswärtige Politik, 
(sehr richtig! links) 
fast möchte ich sagen: zwei auswärtige Amter. Wir be- 
behandelten fast jede Sache auf eine ganz verschiedene 
Weise. Es gab z. B. den besetzten Randstaaten gegen- 
über eine liberale Methode: wir kommen als die Be- 
freier, wir kommen, um euch Selbstbestimmung und eigene 
Staatlichkeit zu bringen. Und auf der anderen Seite 
saßen nach konservativer Methode wohlgeordnete angestellte 
Herren, deren Grundsatz ungefähr hieß: das okkupierte 
Subjekt hat den Mund zu halten! 
GGeiterkeit.) 
Und während wir so seelisch und praktisch die Randstaaten 
mit vollständig zweierlei Methoden behandelten, wunderten 
wir uns, wenn der ausgestreute Same nicht aufgehen 
wollte. Oder, um etwas anderes zu erwähnen, wir re- 
deten mit den Elsässern und fragten sie: ihr seid doch gut 
(B) deutsch, auch wenn es einmal ernst darauf ankommt? Ja, 
aber dabei standen sie unter, ich weiß nicht wieviel Zivil- 
kommandos und anderen Zwangsinstituten, und das, was 
jetzt auftaucht: der elsässische Statthalter und der elsässische 
Staatssekretär, was immer hätte geschehen sollen 
sehr richtig! links) 
und hätte geschehen können, 
(sehr wahr! links) 
das geschah nicht, sagen wir wegen archaistischer monarchi- 
scher Spielereien und Liebhabereien, 
(sehr richtig! links) 
aus irgend welchem Trödel heraus, von dem man schon 
heute gar nicht mehr weiß, warum und wie sich verständige 
Menschen überhaupt um so etwas bemüht haben! 
(Sehr richtig! links.) 
Wir haben es hier erlebt, daß der vorige Reichskanzler 
unter allen notwendigen Klauseln und Kautelen sagte, 
es wird Belgien wieder herausgegeben und wiederherge- 
stellt. Dann aber liefen draußen in Belgien und Flam- 
land Männer herum, im Auftrage ebenso hoher Regierungs- 
stellen, und verkündigten: das sei alles nicht ernst zu 
nehmen, 
(sehr richtig! links) 
denn es sei ja nur ein Wort des Reichskanzlers gewesen, 
(sehr richtig! links) 
und die wirklich entscheidende Stelle habe doch damit das 
letzte Wort selbstverständlich nicht gesprochen! Und so 
haben wir es dann schließlich noch erlebt mit der Behand- 
lung des großen Hauptgegenstandes überhaupt, mit dem 
Frieden. Da galt hier die Resolution vom Juli 1917, 
diese bekannte vielumstrittene Resolution. Der hatte der 
Kaiser, der Reichskanzler, die Oberste Heeresleitung, der 
Bundesrat, der Reichstag, alles zugestimmt; so wenigstens 
steht es in der Note an den Papst. Das hinderte aber 
nicht, daß aus dem Schoße derselben Regierung heraus 
  
in Telegramm und Schrift und Rede immer wieder Grund= (O 
sätze umgekehrter Art ausgesprochen wurden, 
(sehr richtig! links) 
sodaß vom Juli 1917 an bis jetzt niemand in Deutsch- 
land überhaupt gewußt hat: wer ist Koch und wer ist 
Kellner, ist das wahr oder nicht?! 
(Zuruf.) 
— Daß Sie es nicht wissen, das glaube ich, Herr Lede- 
vur. 
(Geiterkeit — und Zurufe von den Unabhängigen 
Sozialdemokraten.) 
— Herr Ledebour, Sie kommen nachher daran! Indem 
also das bisherige Regierungssystem es grundsätzlich nicht 
in sich fertiggebracht hat, eine regierende Einheit zu sein, 
verschwand im Volke das Gefühl irgend einer festen und 
sicheren Führung, und es entstand im Ausland immer der 
Eindruck, die Deutschen sind unehrlich. Nein, unehrlich 
sind die Deutschen nicht gewesen, weder die auf dieser 
Seite, noch die auf dieser Seite, sondern sie waren po- 
litisch unorganisiert! Sie hatten nämlich in ihrem System 
die Methode nicht, bei Zweiheit der Meinungen zu ent- 
scheiden, welche von den beiden Meinungen die Führung 
zu haben hat. Diese Entscheidung bei Zweiheit der Mei- 
nungen hat tatsächlich die Monarchie nicht geleistet, und 
weil das nicht geschehen ist, 
(Zuruf links) 
— ich sage mit Ihnen: leider — aber weil es nicht ge- 
schehen ist, so entstand dann die zwingende Notwendigkeit: 
es muß eine unzweifelhafte Methode da sein, um die 
Einheitlichkeit zu sichern. Die Einheitlichkeit kann für 
uns auf der linken Seite oder gegen uns sein. Sie kann 
zu verschtedenen Zeiten — Sie warten rechts darauf — 
auch einmal Ihnen zugunsten sein. Aber unter allen Um- 
ständen ist die Einheitlichkeit ein erstes Grunderfordernis, 
wenn überhaupt regiert werden soll. 
Das zweite aber, das die bisherige Regierung mit (D) 
ihrem System nicht hat leisten können, war die Verkörpe- 
rung des nationalen Freiheitsgedankens. 
Wir Deutschen sind ja in der Freiheitsbewegung 
nicht ganz denselben Schicksalsweg gegangen, den etwa 
England und Frankreich gingen. Diese haben ihre großen 
Revolutionen gehabt, weil sie Monarchen besaßen, mit 
denen sie im 17. und 18. Jahrhundert ihre starken Aus- 
einandersetzungen durchleben mußten. Der Monarch, mit 
dem sich die Deutschen als Nation zuerst auseinander- 
zusetzen hatten, war ein Fremder. Es war Napoleon. 
Das ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, das ist 
ein Kreuzzug, ist ein heiliger Krieg. So ist damals der 
Freiheitskrieg gewesen. Er war die Abhebung einer 
Fremdherrschaft; und als sie abgehoben war, blieb die 
alte Form der eigenen Herrschaften und somit blieb auch 
in Deutschland ein ganzes Stück altertümlicher Gesinnungs- 
art ebenso mit ihren positiven traulichen Charaktereigen- 
schaften als auch mit ihrem Druck auf ein weiteres Jahr- 
hundert. Wir gewöhnten uns, mehr Ordnungsvolk zu sein 
als Freiheitsvolk. Auch das hat seine Vorzüge, Ordnungs- 
volk zu sein, und jeder, der auf den Reisen im Ausland, 
auch gerade in demokratischen Ländern, den Zustand der 
staatlichen Ordnung und der Verkehrsordnung selber 
kennen lernt, war oft sehr froh, wenn er über die Grenze 
in das Ordnungsland wieder zurückgekommen ist. Aber 
als einzige Charaktermarke eines Volkes die polizeiliche 
Ordnung anzusehen, das reicht nicht für bewegte Zeiten, 
wo die Fahrt nicht stetig geht, sondern wo sozusagen das 
Eisenbahnunglück verlangt, daß jeder Mitfahrende ein Kerl 
ist. In Zeiten, wie wir sie jetzt haben, ist es notwendig, 
daß der Glaube an die Freiheit vorhanden ist, und zwar 
ebenso bei Beamten wie bei Regierenden, bei allen mit- 
einander. Wir hatten gute Beamte. Die waren vortreff- 
lich erzogen und waren pflichttreu. Die sandten wir in
	        
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