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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918.
(D. Naumann (Waldeck], Abgeordneter.)
Diese Führer, die aus den Parteien herausgewachsen
und zur Auffüllung der Regierung vorhanden sind, legen
Gewicht darauf, Mitglieder ihrer Parteien zu bleiben.
Schon früher zwar kam es vor, daß man Parteiführer in
die Regierung hinübernahm. Das war meist für die
betreffenden einzelnen Herren ein erfreulicher Akt ihres
irdischen Daseins,
(Heiterkeit)
bedeutete aber für die Parteien im großen und ganzen
einen Verlust ihrer Führer. Es wurden die Miquel und
Möller und wer es sonst gewesen ist, aus ihrer bisherigen
Parteisphäre herausgehoben und in die Regierung hinüber-
gesetzt. Von da an gehörten sie zur fabelhaften Sphinx
und hatten nichts mehr mit denen zu tun, die jenseits des
Kanals saßen und ihre ehemaligen Kollegen hießen. Diese
Art, aus dem Parlament sozusagen Bluttransfusion in
die Regierung zu üben, ohne damit dem Parlament selber
an Oualität und Tüchtigkeit etwas zuzufügen, ist ein sehr
kurzatmiges Verfahren. Es war darum abfolut richtig,
wenn die Sozialdemokraten das Eintreten ihrer Führer
in die Regierung davon abhängig machten, daß sie in der
Partei bleiben konnten. Mit diesem Verfahren, daß jetzt
die neuen Führerpersönlichkeiten in ihren Parteien drin
bleiben, wächst von den Parteien herüber ein beständiger
Zustrom an Idee, Willen und Kraft in die Regierung.
Es fließt aber ebensogut rückwärts aus der Regierung in
die Parteien die Verpflichtung zur Mitarbeit, zur Treue,
zur Mithilfe, zum Zusammenhalten. Es ändert sich
damit für die Mehrheitsparteien der Charakter des par-
lamentarischen Handelns. Denn während bis jetzt der
Parlamentarismus zu einem großen Teil naturgemäß nur
aus Kritik bestehen konnte — er war der Salon der
Ausgeschlossenen,
(Heiterkeit)
die miteinander sich unterhielten, wie sie es machen
(8) würden, wenn sie verantwortlich wären —, so ist jetzt, nach-
dem sie in die Regierung hineingenommen werden, dieses
ganze Salongefühl der Ausgeschlossenen von früher einem
anderen stärkeren Gefühl gewichen, nämlich dem der ver-
pflichtenden Zusammengehörigkeit. Man muß in den
Mehrheitsparteien vorher untereinander abmachen, was
man will, dann braucht man in der „Halle der Wieder-
holungen“ nicht mehr so viel zu reden, wie ehemals,
(Zuruf)
weil die ganze Organisation der politischen Willens-
bildung leichter und einfacher geworden ist. — Mir wird
freundlich gesagt, man soll das abwarten.
(Zuruf von den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
— Herr Ledebour hat nämlich angenommen, ich hätte
bereits von der Opposition geredet. Das werde ich nun
erst tun. Ich habe bisher davon geredet, welchen Ein-
fluß es auf die Mehrheit selbst hat, Trägerin der Re-
gierung zu sein. Wenn nun aber die Mehrheit so ge-
bildet worden ist, so lebt außer ihr, und zwar als not-
wendiger Staatsbestandteil, als unentbehrliche Ergänzung,
die Opposition, die sich zurzeit in Deutschland etwas
merkwürdig zusammensetzt, nämlich aus den beiden Flügel-
enden des deutschen Adlers, indem von rechts hier und
von links drüben sich zusammen dasjenige bildet, was nun
die „Opposition“ gegen die Mehrheitsregierung ist.
Es versteht sich von selbst: während die Mehrheit
regierende Kraft hat, muß die Opposition versuchen,
regierend zu werden, und niemand von uns wird sich
wundern, und niemand von Ihnen auf der rechten Seite
und bei den Radikalsten wird etwas anderes vorhaben,
als daß Sie nun für die nächste Periode die Heimat
einer beständigen und dauernden Kritik sind. Das bedeutet
ja für die Gruppe des Herrn Ledebour keine Erneuerung
ihres Verfahrens.
« (Allgemeine große Heiterkeit.)
Denn Sie sind nie etwas anderes gewesen, und darum: (0)
Sie bleiben, was Sie sind, das konservativste Element
im Hause und — —
(Andauernde große Heiterkeit — und Zurufe von den
Unabhängigen Sozialdemokraten. — Glocke des
Präsidenten.)
Vizepräsident Dove: Ich bitte die Unterbrechungen
zu unterlassen.
D. Naumann (Waldeck), Abgeordneter: — Das ist
ganz richtig! — Also es scheint doch bei Ihnen gesessen
zu haben!
(Wiederholte große Heiterkeit).
Etwas anders liegt die Sache auf der konservativen
Seite. Denn das wird niemand verkennen, daß, während
bisher im Reiche und in Preußen die konservative Seite
die engsten Beziehungen zu den vergangenen Regierungen
gehabt hat, vor allem in weiter zurückliegenden Perioden,
vielleicht in der allerletzten schon nicht mehr ganz —
(Zuruf rechts; Widerspruch und Heiterkeit)
— doch, Ihr Gedächtnis hat gelitten!
(Erneute Heiterkeit.)
Wenn ich denke, was im preußischen Ministerium gesessen hat,
e
Zuruf
— und noch sitzt, und was vom preußischen Ministerium
nach dem Reiche herüberwirkte und was in den gemein-
samen Sitzungen aller Staatsleitenden zum Ausdruck
gekommen ist! Wer hat denn immer alles gehindert,
was fortschrittlich war, wer hat denn dafür gesorgt, daß
alle Mehrheitsresolutionen dieses Hauses ewig in
den großen Papierkorb hineingekommen sind, wer
hat es geschafft, daß das Recht der Initiativanträge des
Parlaments beinahe eine Sage unter uns gewesen ist?
Das waren die, die Ihre (nach rechts) Vertreter in der
Regierung waren! Sie sind bisher die einzigen unter
uns, die ein Bewußtsein dafür besitzen, was es ist, regie= (D)
rende Partei zu sein; und weil sie die einzigen sind, die
das wirklich wissen, so sitzen Sie jetzt da, teils mit dem
Gefühl, daß man Ihnen etwas Wertvolles genommen
hat, und teils mit der herben Kritik, daß die noch un-
gewohnten Nachfolger die Sache doch nicht richtig an-
fangen. Das ist überall so. Wenn ich jetzt in die Reichs-
ämter hineindenke, was wird da über die neuen Herren
geredet werden, was wird von altbewährter Seite über
das neue System Kritik geübt! Aber ich stelle mir die
Sache so vor: durch sachliche und notwendige Kritik wird
dieser Vorgang auch für die konservativen Volksteile eine
ungeheure erziehende Wirkung ausüben.
(Sehr richtig! links.)
Denn wenn einmal auf Grundlage des Mehrheitsprinzips
jede künftige deutsche Regierung entsteht, so werden auch
Sie nie wieder zur deutschen Regierung gelangen außer
auf dem Wege des Mehrheitsprinzips. Wenn das wahr
ist — und es gibt wohl kaum einen anderen loyalen
Weg, um wieder zur deutschen Regierung zu kommen —,
(sehr gut! links)
dann werden Sie genötigt sein, sich dem Grundsatz: die
Masse hat den Einfluß, nun auch Ihrerseits in ganz
anderer Weise anzubequemen, als es bisher geschehen ist,
sodaß, wie wir hoffen dürfen, auch das Wesen der kon-
servativen Partei den größten Wandlungen unterliegen
wird infolge der jetzigen Tage, ebensogut wie das Wesen
der bisher kritisierenden linken Parteien sich umgestalten
muß zu staatsschaffender und staatstragender Mehrheit.
(Bravol links.)
Und trotz aller notwendigen und unvermeidlichen inner-
politischen Gegensätze, die wir kommen sehen und denen
wir ruhig und getrost entgegenblicken, haben wir die eine
Uberzeugung, es werde künftig nicht schwerer sein als
früher, daß wir alle in den notwendigsten Staatsdingen