Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
  
(D. Naumann (Waldeck], Abgeordneter.) 
Diese Führer, die aus den Parteien herausgewachsen 
und zur Auffüllung der Regierung vorhanden sind, legen 
Gewicht darauf, Mitglieder ihrer Parteien zu bleiben. 
Schon früher zwar kam es vor, daß man Parteiführer in 
die Regierung hinübernahm. Das war meist für die 
betreffenden einzelnen Herren ein erfreulicher Akt ihres 
irdischen Daseins, 
(Heiterkeit) 
bedeutete aber für die Parteien im großen und ganzen 
einen Verlust ihrer Führer. Es wurden die Miquel und 
Möller und wer es sonst gewesen ist, aus ihrer bisherigen 
Parteisphäre herausgehoben und in die Regierung hinüber- 
gesetzt. Von da an gehörten sie zur fabelhaften Sphinx 
und hatten nichts mehr mit denen zu tun, die jenseits des 
Kanals saßen und ihre ehemaligen Kollegen hießen. Diese 
Art, aus dem Parlament sozusagen Bluttransfusion in 
die Regierung zu üben, ohne damit dem Parlament selber 
an Oualität und Tüchtigkeit etwas zuzufügen, ist ein sehr 
kurzatmiges Verfahren. Es war darum abfolut richtig, 
wenn die Sozialdemokraten das Eintreten ihrer Führer 
in die Regierung davon abhängig machten, daß sie in der 
Partei bleiben konnten. Mit diesem Verfahren, daß jetzt 
die neuen Führerpersönlichkeiten in ihren Parteien drin 
bleiben, wächst von den Parteien herüber ein beständiger 
Zustrom an Idee, Willen und Kraft in die Regierung. 
Es fließt aber ebensogut rückwärts aus der Regierung in 
die Parteien die Verpflichtung zur Mitarbeit, zur Treue, 
zur Mithilfe, zum Zusammenhalten. Es ändert sich 
damit für die Mehrheitsparteien der Charakter des par- 
lamentarischen Handelns. Denn während bis jetzt der 
Parlamentarismus zu einem großen Teil naturgemäß nur 
aus Kritik bestehen konnte — er war der Salon der 
Ausgeschlossenen, 
(Heiterkeit) 
die miteinander sich unterhielten, wie sie es machen 
(8) würden, wenn sie verantwortlich wären —, so ist jetzt, nach- 
dem sie in die Regierung hineingenommen werden, dieses 
ganze Salongefühl der Ausgeschlossenen von früher einem 
anderen stärkeren Gefühl gewichen, nämlich dem der ver- 
pflichtenden Zusammengehörigkeit. Man muß in den 
Mehrheitsparteien vorher untereinander abmachen, was 
man will, dann braucht man in der „Halle der Wieder- 
holungen“ nicht mehr so viel zu reden, wie ehemals, 
(Zuruf) 
weil die ganze Organisation der politischen Willens- 
bildung leichter und einfacher geworden ist. — Mir wird 
freundlich gesagt, man soll das abwarten. 
(Zuruf von den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
— Herr Ledebour hat nämlich angenommen, ich hätte 
bereits von der Opposition geredet. Das werde ich nun 
erst tun. Ich habe bisher davon geredet, welchen Ein- 
fluß es auf die Mehrheit selbst hat, Trägerin der Re- 
gierung zu sein. Wenn nun aber die Mehrheit so ge- 
bildet worden ist, so lebt außer ihr, und zwar als not- 
wendiger Staatsbestandteil, als unentbehrliche Ergänzung, 
die Opposition, die sich zurzeit in Deutschland etwas 
merkwürdig zusammensetzt, nämlich aus den beiden Flügel- 
enden des deutschen Adlers, indem von rechts hier und 
von links drüben sich zusammen dasjenige bildet, was nun 
die „Opposition“ gegen die Mehrheitsregierung ist. 
Es versteht sich von selbst: während die Mehrheit 
regierende Kraft hat, muß die Opposition versuchen, 
regierend zu werden, und niemand von uns wird sich 
wundern, und niemand von Ihnen auf der rechten Seite 
und bei den Radikalsten wird etwas anderes vorhaben, 
als daß Sie nun für die nächste Periode die Heimat 
einer beständigen und dauernden Kritik sind. Das bedeutet 
ja für die Gruppe des Herrn Ledebour keine Erneuerung 
ihres Verfahrens. 
« (Allgemeine große Heiterkeit.) 
  
Denn Sie sind nie etwas anderes gewesen, und darum: (0) 
Sie bleiben, was Sie sind, das konservativste Element 
im Hause und — — 
(Andauernde große Heiterkeit — und Zurufe von den 
Unabhängigen Sozialdemokraten. — Glocke des 
Präsidenten.) 
Vizepräsident Dove: Ich bitte die Unterbrechungen 
zu unterlassen. 
D. Naumann (Waldeck), Abgeordneter: — Das ist 
ganz richtig! — Also es scheint doch bei Ihnen gesessen 
zu haben! 
(Wiederholte große Heiterkeit). 
Etwas anders liegt die Sache auf der konservativen 
Seite. Denn das wird niemand verkennen, daß, während 
bisher im Reiche und in Preußen die konservative Seite 
die engsten Beziehungen zu den vergangenen Regierungen 
gehabt hat, vor allem in weiter zurückliegenden Perioden, 
vielleicht in der allerletzten schon nicht mehr ganz — 
(Zuruf rechts; Widerspruch und Heiterkeit) 
— doch, Ihr Gedächtnis hat gelitten! 
(Erneute Heiterkeit.) 
Wenn ich denke, was im preußischen Ministerium gesessen hat, 
e 
Zuruf 
— und noch sitzt, und was vom preußischen Ministerium 
nach dem Reiche herüberwirkte und was in den gemein- 
samen Sitzungen aller Staatsleitenden zum Ausdruck 
gekommen ist! Wer hat denn immer alles gehindert, 
was fortschrittlich war, wer hat denn dafür gesorgt, daß 
alle Mehrheitsresolutionen dieses Hauses ewig in 
den großen Papierkorb hineingekommen sind, wer 
hat es geschafft, daß das Recht der Initiativanträge des 
Parlaments beinahe eine Sage unter uns gewesen ist? 
Das waren die, die Ihre (nach rechts) Vertreter in der 
Regierung waren! Sie sind bisher die einzigen unter 
uns, die ein Bewußtsein dafür besitzen, was es ist, regie= (D) 
rende Partei zu sein; und weil sie die einzigen sind, die 
das wirklich wissen, so sitzen Sie jetzt da, teils mit dem 
Gefühl, daß man Ihnen etwas Wertvolles genommen 
hat, und teils mit der herben Kritik, daß die noch un- 
gewohnten Nachfolger die Sache doch nicht richtig an- 
fangen. Das ist überall so. Wenn ich jetzt in die Reichs- 
ämter hineindenke, was wird da über die neuen Herren 
geredet werden, was wird von altbewährter Seite über 
das neue System Kritik geübt! Aber ich stelle mir die 
Sache so vor: durch sachliche und notwendige Kritik wird 
dieser Vorgang auch für die konservativen Volksteile eine 
ungeheure erziehende Wirkung ausüben. 
(Sehr richtig! links.) 
Denn wenn einmal auf Grundlage des Mehrheitsprinzips 
jede künftige deutsche Regierung entsteht, so werden auch 
Sie nie wieder zur deutschen Regierung gelangen außer 
auf dem Wege des Mehrheitsprinzips. Wenn das wahr 
ist — und es gibt wohl kaum einen anderen loyalen 
Weg, um wieder zur deutschen Regierung zu kommen —, 
(sehr gut! links) 
dann werden Sie genötigt sein, sich dem Grundsatz: die 
Masse hat den Einfluß, nun auch Ihrerseits in ganz 
anderer Weise anzubequemen, als es bisher geschehen ist, 
sodaß, wie wir hoffen dürfen, auch das Wesen der kon- 
servativen Partei den größten Wandlungen unterliegen 
wird infolge der jetzigen Tage, ebensogut wie das Wesen 
der bisher kritisierenden linken Parteien sich umgestalten 
muß zu staatsschaffender und staatstragender Mehrheit. 
(Bravol links.) 
Und trotz aller notwendigen und unvermeidlichen inner- 
politischen Gegensätze, die wir kommen sehen und denen 
wir ruhig und getrost entgegenblicken, haben wir die eine 
Uberzeugung, es werde künftig nicht schwerer sein als 
früher, daß wir alle in den notwendigsten Staatsdingen 
 
	        
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