Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

6174 Reichstag. — 193. Sitzung. 
(Dr. Stresemann, Abgeordneter.) 
(à4) ich das letztemal namens meiner Freunde hier sprach, 
in der Situation, in der wir auf der Höhe der militärischen 
Leistungsfähigkeit standen, am 26. Juni d. J., ich namens 
meiner Freunde zum Ausdruck gebracht habe, daß wir 
niemals den Krieg als verloren ansehen würden, auch 
wenn dieses oder jenes Kriegsziel nicht erreicht wäre, und 
daß wir um dieses oder jenes Kriegsziels willen den 
Krieg nicht fortsetzen würden. Wir haben aber aus dem, 
was sich entwickelt hat und was wir in diesen vier Jahren 
ersehe: haben in der innen= und außenpolitischen Ent- 
wicklung, was ja leider jetzt nur in großen Zügen an- 
gedeutet werden kann, den Schluß gezogen, daß das 
System, das uns hierher führte, sein Recht auf Weiter- 
existenz verwirkt hat, und wir stimmen aus diesem Grunde 
dem Programm des Herrn Reichskanzlers zu und den 
Anträgen, die an den Reichstag gehen werden und unsere 
Unterschriften tragen. 
Eine solche Erklärung für unsere Partei abzugeben 
ist angesichts der geschichtlichen Entwicklung der Partei 
nicht leicht. Es ist aber gerade wegen der geschichtlichen 
Entwicklung der Partei bedeutungsvoll. Ich bin mir 
vollkommen darüber klar, die Tradition eines halben 
Jahrhunderts der Parteigeschichte steigt gegen uns auf, 
wenn wir diesen Weg gehen, und ich höre den Ruf von 
der Rechten und höre ihn aus unseren eigenen Reihen, 
den Ruf, der für den Außenstehenden so etwas Be- 
strickendes an sich hat, weil er an die große Zeit der 
Bismarchschen Ara erinnert: ihr tragt jetzt Bismarcks 
Werk der deutschen Reichsverfassung zu Grabe. Gewiß, 
ich möchte nicht daran vorbeigehen, gerade die Entstehung 
der nationalliberalen Partei war einst der Kampf gegen 
das parlamentarische System für die fkonstitutionelle 
Monarchie nach dem Kriege von 1866. Aber an das Er- 
gebnis der größten Revolntionierung, die die Welt jemals 
gesehenhat, kann man nicht mit Paragraphen aus vergangenen 
Jahrzehnten herantreten und man kann, gerade wenn man 
von Bismarck spricht, Bismarck nicht als Kronzeugen an- 
führen für eine solche Entwicklung. Hätte ein Bismarck 
jemals eine große mächtige Arbeiterpartei zur Verfügung 
gehabt, die gewillt gewesen wäre, in die Regierung ein- 
zutreten und staatliche Verantwortung auf sich zu nehmen, 
er wäre der Erste gewesen, der sich dieser Kräfte für 
seine Ziele mitbedient hätte. 
· (Sehr richtig! links.) 
Ich darf darauf hiuweisen, daß er gegenüber der Fort- 
schrittspartei, die ihn auf das heftigste bekämpfte in der 
Flottenfrage, um ihre Mitarbeit geworben hat, wie er 
in seiner ganzen Politik gerade in bezug auf die Mit- 
wirkung der einzelnen-Parteien sich tragen ließ von dem 
Gedanken, was dem ganzen im gegebenen Momente 
frommte. Ich komme darauf später noch zurück. 
Herr Kollege Naumann hat darauf hingewiesen: die 
ganze Reichsverfassung war auf die gigantische Persön= 
lichkeit Bismarcks zugeschnitten. Schon in seiner eigenen 
Kanzlerschaft hat er gesehen, daß dieses Gewand nicht so 
bleiben könne, schon in dieser Zeit ist vom Bundeskanzler 
das eine oder andere Amt abgesprengt oder neu errichtet 
worden. 
Ich darf daran erinnern, daß der aus dem Amte 
geschiedene Bismarck sich darüber klar war, daß er mit 
Absicht nicht eine Gleichgewichtslage zwischen Parlament 
und Regierung geschaffen hatte, sondern eine Ver- 
fassung, in der das Parlament in einen Mindereinfluß 
hineingedrängt war, den er für gefährlich ansah für eine 
Entwicklung, die einen Bismarck nicht mehr an der 
Spitze hatte. Deshalb sprach er nach seiner Ent- 
lassung in seiner bekannten Nede in Jena und sagte, 
daß wir einen Reichstag brauchten, der in seinem Innern 
eine konstante Majorität hätte, der kritisiert, kontrolliert 
und unter Umständen führt, was notwendig sei, um das 
  
Dienstag den 22. Oktober 1918. 
Gleichgewicht zu verwirklichen, das die Verfassung zwischen (O 
Regierung und Volksvertretung hätte schaffen wollen, ein 
Anerkenntnis dessen, daß sie dieses Gleichgewicht nicht ge- 
schaffen hatte. Hente ist die Entwicklung gewiß über das 
hinausgegangen, was der Reichsbaumeister als notwendig 
angesehen hat. Weil wir keine Gleichgewichtslage zwischen 
Regierung und Parlament hatten, und weil die mangelnde 
Gleichgewichtslage noch verschärft wurde durch das per- 
sönliche Hervortreten des Trägers der Krone, das nach 
außen den Eindruck der Einflußlosigkeit des Parlaments 
hervorrufen mußte, deshalb sind unsere Verhältnisse 
verzerrt erschienen und mußten so erscheinen. Daß das 
vor dem Weltkriege empfunden worden ist, davon geben 
die Verhandlungen in diesem Hause Zeugnis. Ich erinnere 
an die Interpellation Bassermanns über das persönliche 
Regiment, an die Interpellation der Novembertage, wo bis 
zur Rechten hinein über diese Verhältnisse gesprochen 
worden ist. Immerhin sind wir in den Weltkrieg mit 
der Auffassung eingetreten, daß das deutsche System in 
diesem Kriege dem parlamentarischen System der Feinde 
überlegen sein würde. Bei uns bestand die Auffassung, 
daß das parlamentarische System einen Schwäche- 
zustand schaffen mußte, häufigen Ministerwechsel, keine 
Ständigkeit, Mangel an militärischer Erziehung und kriegs- 
technischer Leistungsfähigkeit. Diese Auffassung ist nach 
den Ergebnissen des Weltkrieges nicht mehr aufrechtzu- 
erhalten und wird von uns nicht erst ausgesprochen auf 
Grund der neuesten Vorgänge. Ich habe am 27. März 
1917 in diesem Hause über die Frage der Parlamen- 
tarisierung sprechen können. Ich habe damals, unter der 
Ara Bethmann Hollwegs darauf hingewiesen, daß es 
gegenüber der Uberlegenheit des parlamentarischen Systems 
in den feindlichen Ländern die höchste Zeit sei, vom alten 
System in Dentschland mindestens zu dem eines engen 
Vertrauensverhältnisses zwischen Parlament und Regierung 
durch Aufnahme von Parlamentariern in die Regierung (D) 
überzugehen. Damals haben ängstliche Gemüter davon 
gesprochen, daß man sich durch solche Konzessionen auf 
eine schiefe Ebene begebe. Nein, meine Herren, die 
Geschichte aller Zeiten zeigt das eine, daß es das Unglück 
der Könige und der herrschenden Schichten ist, wenn sie 
die Konzessionen nicht zu richtiger Zeit freiwillig dar- 
bringen, 
(sehr richtig! bei den Nationalliberalen) 
sondern sie sich später abringen lassen, wenn ihnen kein 
Mensch mehr Dank für das zollt, was sie gezwungener- 
weise in einem Augenblick geben, wo von keiner Freiwillig- 
keit mehr gesprochen werden kann. 
Dann müssen wir doch auch das eine zusammenfassend 
sagen: die alte Reichsform hat uns das nicht gegeben, 
was wir von ihr im Innern beanspruchen konnten. Auf 
manche Jehler dieses Systems ist ja der Kollege Naumann 
zu sprechen gekommen. Ich darf auf einige andere Ge- 
sichtspunkte hinweisen, die uns doch schließlich allen vor 
Augen geführt haben, daß irgendein großer Fehler in 
diesem System stecken müsse. Die Geschichte unserer Außen- 
politik ist schon vor dem Kriege und während des Krieges 
nichts anderes als ein einziger großer diplomatischer 
Niederbruch gewesen. Unter den ungünstigsten Verhält- 
nissen sind wir in den Krieg eingetreten, ohne unsere 
Bundesgenossen, mit denen uns Bündnisverträge seit 30 
Jahren verbanden: ohne Italien, ohne Rumänien, später 
gegen sie. Wir sehen die ganze diplomatische Geschichte 
des Weltkrieges voll von unglückseligen Aktionen, Depeschen 
und falschen Informationen. Manche Dinge, die mit Be- 
zug auf ihre Wirkung, auf Imponderabilien weit mehr 
dazu beigetragen haben, uns zu vereinsamen, als sich 
gegenwärtig die Offentlichkeit vorstellt. Wir sind bis in 
die letzten Wochen Zeuge einer alle Interessen Deutsch- 
lands mißachtenden Berichterstattung diplomatischer Art
	        
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