Reichstag. — 193. Sitzung.
(Dr. Stresemann, Abgeordneter.)
(A über Vorgänge in Tagen gewesen, in denen jedermann er-
kunnte, daß es um die nackte Existenz unseres Volkes
ng.
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.)
Der Gegensatz zwischen den gewaltigen Leistungen
dieses Volkes in seiner Gesamtheit und in den einzelnen
Schichten und dem diplomatischen Niederbruch lag klar zu-
kuge, und mußte zu einer Anklage gegen das System
werden.
Aber unser System hat selbst da versagt, wo es seine
stärkste Stütze in unserer Erziehung haben müßte, nämlich
kriegstechnisch. Daß wir uns technisch von den Amateuren
des Kriegshandwerks in England und Amerika schlagen
lassen mußten, das ist eine beispiellose Enttäuschung,
(lebhafte Zustimmung bei den Nationalliberalen und
den Sozialdemokraten)
eine beispiellose Enttäuschung für diejenigen, die geglaubt
haben, daß, wenn wir manches an Unfreiheit mit in Kauf
nehmen, wir uns doch darauf stützen könnten, daß wir
auf diesem Gebiete die großen Lehrmeister der Welt
wären, denen ein anderer nicht das Wasser reichen könnte.
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.)
Das haben wir erlebt, wie wir zusammenberufen wurden,
um das Hilfsdienstgesetz vorzuberaten; und als wir
staunend fragten, wie es denn möglich wäre, daß bei uns
in einer Zeit Munitionsherstellung zurückging, in der
England sie versiebzehnfachte, da sagte der militärische
Vertreter in jener Besprechung: ja, wir haben eben in
Deutschland keinen Lloyd George, der derartig organisiert
hätte, wie es Lloyd George in England getan hat. Wenn
man weiß, daß der deutschen Verwaltung Tanks seit dem
Herbst 1914 von der deutschen Industrie angeboten worden
sind,
(lebhafte Rufe: hört! hört! bei den Nationalliberalen
und links)
(8) wenn man sich vor Augen führt, daß die gewaltigen
Leistungen der deutschen Industrie in bezug auf den
U-Bootbau nicht ausgenutzt worden sind,
(erneute lebhafte Rufe: hört! hörtl)
— nachdem man die Waffe genommen hatte, mußte man
die letzte Werkstätte bauen, um das letzte U-Boot in den
Dienst zu stellen —, wenn wir jetzt hören, wo es vielleicht
zu spät ist, was wir hätten leisten können, daun be-
schleichen einen doch ganz bittere Empfindungen über das,
was hier versäumt ist.
Man muß doch das eine fragen, ob man dann noch
als Verteidiger eines Systems auftreten kann, wenn es
da, wo es seine stärkste Stütze hätte haben müssen, in der
militärisch-technischen Leistungsfähigkeit, gegenüber Völkern
versagte, die Amateure auf diesem Gebiete zu Kriegs-
ministern machten, und dann etwas derartiges leisten
konnten, als was sich — seien wir doch offen — die
Leistungen der Militarisierung Euglands und Amerikas
uns gegenüber darstellen, jener Länder, die schon ganz
gewaltige schöpferische Kräfte in sich gehabt haben müssen,
um das überhaupt leisten zu können, was alle Voraus-
setzungen überstieg, die uns von den an der Spitze großer
Reichsämter stehenden Persönlichkeiten gemacht worden sind.
Meine Herren, ich will dieses Bild nicht zu weit
führen, darf aber auch auf das eine hinweisen, daß bei-
spielsweise in der Frage der Vergebung von Lieferungen
urch das Kriegsministerium gerade im ersten Jahre des
Krieges ein System befolgt worden ist, dem wir die
Schieberwirtschaft in Deutschland und die Kriegs-
gewinnlerwirtschaft am allermeisten danken.
(Lebhafte Zustimmung bei den Nationalliberalen.)
Kein Mensch in Deutschland, ich glaube, auch nicht auf
sozialdemokratischer Seite, gönnt nicht demjenigen einen
angemessenen Gewinn, der wirklich produktiv schaffend im
Kriege gewesen ist. Das Unangemessene soll er dem
Dienstag den 22. Oktober 1918.
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Reiche geben. Aber was damals unter der Herrschaft der (C)
Behörden vor sich ging, war ein Vorbeigehen an allen
produktiven Ständen, war ein Heranziehen von Elementen,
mit denen kein ehrlicher Kaufmann jemals ein Geschäft
abgeschlossen hätte.
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.)
Das war eine Planlosigkeit in bezug auf Vergebung von
Lieferungen. Man sah, daß man auf diesem Gebiete sich
überhaupt für den Krieg gar nicht eingerichtet hatte, um
im gegebenen Augenblick einer erstarkten Lieferungsfähig-
keit gegenüberzustehen.
Wenn die Autorität in Deutschland in diesem Welt-
krieg zusammengebrochen und die Staatsautorität, als
deren Anhänger wir uns mit zu betrachten haben und
weiter betrachten, zusammengebrochen ist, wie wir es nicht
für möglich gehalten haben, so hat doch auch der klaffende
Gegensatz der staatlichen Wirtschaft auf dem Ernährungs=
wesen das Seine dazu beigetragen. Entweder rationierte
man und tat es für das ganze Volk oder man gab die
freie Wirtschaft. Aber die Art, wie man das ganze Volk
geradezu zum Betrüger am Staate erzogen hat, weil es
die Gesetze übertreten mußte, um das Leben fristen zu
können, mußte zum Zusammenbruch der Autorität führen
und zeigte uns hier, daß auch auf diesem Gebiet nicht
diejenige Leitung, die große organisatorische planvolle
Leitung bestand, die wir erwarten mußten.
Aber, was uns am meisten fehlte, was auf anderen
Gebieten liegt als diese technischen und wirtschaftlichen
Fragen, das war der Zusammenhang zwischen Regierung
und Volk, der notwendig war in einem Kriege, der nur
durchgeführt werden konnte, wenn die letzte Volksenergie
jedes einzelnen für den Staatsgedanken angespannt wurde.
Auch von diesem Geheimratsgeist hat ja schon Bismarck
gesprochen, als er einmal sagte, es gäbe Geheimräte, die
glaubten, daß sie im besonderen Verhältnis zum lieben
Gott stehen.
Aber ein Gegensatz, der auch bei der Frage „parlamen-
tarisches System oder deutsches System“ sich einem auf-
drängte: bei uns waren früher der hohe Beamte und
das Volk doch zwei Dinge, zwischen denen keine Verbin-
dung bestand. -
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.)
Wenn drüben in England die Arbeiter nicht mehr weiter
arbeiten wollten, wenn da die Munitionsherstellung stockte,
ging der Arbeitsminister zu den Grubenarbeitern, sprach
zu ihnen und feuerte sie an, und weil sie den Minister
als Mensch und Persönlichkeit vor sich sahen, weil er
ihnen Mann gegen Mann gegenüberstand, Vertrauen von
ihnen heischend, deshalb konnten dort ganz andere Leistungen
vollbracht werden als bei uns, wo man sich der „Nord-
deutschen Allgemeinen Zeitung" bediente, wenn man glaubte,
auf das Volk draußen wirken zu wollen. Dieser voll-
kommen fehlende Zusammenhang persönlicher Art zwischen
denen, die da führten, und denen, die geführt werden
sollten, war letzten Endes der Kardinalfehler, an dem
schließlich dieses System zusammenbrechen mußte.
Ich bin der ÜUberzeugung und ich möchte auch der
neuen Regierung diesen Wunsch sehr mit auf den Weg
geben: unterschätzen Sie das eine nicht, nun Ihrerseits
dieses Verhältnis herzustellen. Denn das deutsche Volk
ist innerlich so konstruiert, daß es starke Führer sehen
will, daß es geführt sein will, daß es aber auch einen
Führerwillen verlangt und daß es diejenigen, die es führen,
als um sein Vertrauen werbend sehen und ihnen sein
Vertrauen geben will.
Dieser lebendige Zusammenhang mit dem Volk war
durch die Erfordernisse des Weltkrieges erwiesen. Denn
das große Erlebnis des Krieges, das bleibt die Ge-
meinsamkeit der Idee des Vaterlandes und der Not-
wendigkeit seiner Verteidigung. Die politische Erziehung
Ich will nicht von diesem Geiste sprechen. (D