Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichstag. — 193. Sitzung. 
(Dr. Stresemann, Abgeordneter.) 
(A über Vorgänge in Tagen gewesen, in denen jedermann er- 
kunnte, daß es um die nackte Existenz unseres Volkes 
ng. 
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) 
Der Gegensatz zwischen den gewaltigen Leistungen 
dieses Volkes in seiner Gesamtheit und in den einzelnen 
Schichten und dem diplomatischen Niederbruch lag klar zu- 
kuge, und mußte zu einer Anklage gegen das System 
werden. 
Aber unser System hat selbst da versagt, wo es seine 
stärkste Stütze in unserer Erziehung haben müßte, nämlich 
kriegstechnisch. Daß wir uns technisch von den Amateuren 
des Kriegshandwerks in England und Amerika schlagen 
lassen mußten, das ist eine beispiellose Enttäuschung, 
(lebhafte Zustimmung bei den Nationalliberalen und 
den Sozialdemokraten) 
eine beispiellose Enttäuschung für diejenigen, die geglaubt 
haben, daß, wenn wir manches an Unfreiheit mit in Kauf 
nehmen, wir uns doch darauf stützen könnten, daß wir 
auf diesem Gebiete die großen Lehrmeister der Welt 
wären, denen ein anderer nicht das Wasser reichen könnte. 
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) 
Das haben wir erlebt, wie wir zusammenberufen wurden, 
um das Hilfsdienstgesetz vorzuberaten; und als wir 
staunend fragten, wie es denn möglich wäre, daß bei uns 
in einer Zeit Munitionsherstellung zurückging, in der 
England sie versiebzehnfachte, da sagte der militärische 
Vertreter in jener Besprechung: ja, wir haben eben in 
Deutschland keinen Lloyd George, der derartig organisiert 
hätte, wie es Lloyd George in England getan hat. Wenn 
man weiß, daß der deutschen Verwaltung Tanks seit dem 
Herbst 1914 von der deutschen Industrie angeboten worden 
sind, 
(lebhafte Rufe: hört! hört! bei den Nationalliberalen 
und links) 
(8) wenn man sich vor Augen führt, daß die gewaltigen 
Leistungen der deutschen Industrie in bezug auf den 
U-Bootbau nicht ausgenutzt worden sind, 
(erneute lebhafte Rufe: hört! hörtl) 
— nachdem man die Waffe genommen hatte, mußte man 
die letzte Werkstätte bauen, um das letzte U-Boot in den 
Dienst zu stellen —, wenn wir jetzt hören, wo es vielleicht 
zu spät ist, was wir hätten leisten können, daun be- 
schleichen einen doch ganz bittere Empfindungen über das, 
was hier versäumt ist. 
Man muß doch das eine fragen, ob man dann noch 
als Verteidiger eines Systems auftreten kann, wenn es 
da, wo es seine stärkste Stütze hätte haben müssen, in der 
militärisch-technischen Leistungsfähigkeit, gegenüber Völkern 
versagte, die Amateure auf diesem Gebiete zu Kriegs- 
ministern machten, und dann etwas derartiges leisten 
konnten, als was sich — seien wir doch offen — die 
Leistungen der Militarisierung Euglands und Amerikas 
uns gegenüber darstellen, jener Länder, die schon ganz 
gewaltige schöpferische Kräfte in sich gehabt haben müssen, 
um das überhaupt leisten zu können, was alle Voraus- 
setzungen überstieg, die uns von den an der Spitze großer 
Reichsämter stehenden Persönlichkeiten gemacht worden sind. 
Meine Herren, ich will dieses Bild nicht zu weit 
führen, darf aber auch auf das eine hinweisen, daß bei- 
spielsweise in der Frage der Vergebung von Lieferungen 
urch das Kriegsministerium gerade im ersten Jahre des 
Krieges ein System befolgt worden ist, dem wir die 
Schieberwirtschaft in Deutschland und die Kriegs- 
gewinnlerwirtschaft am allermeisten danken. 
(Lebhafte Zustimmung bei den Nationalliberalen.) 
Kein Mensch in Deutschland, ich glaube, auch nicht auf 
sozialdemokratischer Seite, gönnt nicht demjenigen einen 
angemessenen Gewinn, der wirklich produktiv schaffend im 
Kriege gewesen ist. Das Unangemessene soll er dem 
Dienstag den 22. Oktober 1918. 
  
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Reiche geben. Aber was damals unter der Herrschaft der (C) 
Behörden vor sich ging, war ein Vorbeigehen an allen 
produktiven Ständen, war ein Heranziehen von Elementen, 
mit denen kein ehrlicher Kaufmann jemals ein Geschäft 
abgeschlossen hätte. 
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) 
Das war eine Planlosigkeit in bezug auf Vergebung von 
Lieferungen. Man sah, daß man auf diesem Gebiete sich 
überhaupt für den Krieg gar nicht eingerichtet hatte, um 
im gegebenen Augenblick einer erstarkten Lieferungsfähig- 
keit gegenüberzustehen. 
Wenn die Autorität in Deutschland in diesem Welt- 
krieg zusammengebrochen und die Staatsautorität, als 
deren Anhänger wir uns mit zu betrachten haben und 
weiter betrachten, zusammengebrochen ist, wie wir es nicht 
für möglich gehalten haben, so hat doch auch der klaffende 
Gegensatz der staatlichen Wirtschaft auf dem Ernährungs= 
wesen das Seine dazu beigetragen. Entweder rationierte 
man und tat es für das ganze Volk oder man gab die 
freie Wirtschaft. Aber die Art, wie man das ganze Volk 
geradezu zum Betrüger am Staate erzogen hat, weil es 
die Gesetze übertreten mußte, um das Leben fristen zu 
können, mußte zum Zusammenbruch der Autorität führen 
und zeigte uns hier, daß auch auf diesem Gebiet nicht 
diejenige Leitung, die große organisatorische planvolle 
Leitung bestand, die wir erwarten mußten. 
Aber, was uns am meisten fehlte, was auf anderen 
Gebieten liegt als diese technischen und wirtschaftlichen 
Fragen, das war der Zusammenhang zwischen Regierung 
und Volk, der notwendig war in einem Kriege, der nur 
durchgeführt werden konnte, wenn die letzte Volksenergie 
jedes einzelnen für den Staatsgedanken angespannt wurde. 
Auch von diesem Geheimratsgeist hat ja schon Bismarck 
gesprochen, als er einmal sagte, es gäbe Geheimräte, die 
glaubten, daß sie im besonderen Verhältnis zum lieben 
Gott stehen. 
Aber ein Gegensatz, der auch bei der Frage „parlamen- 
tarisches System oder deutsches System“ sich einem auf- 
drängte: bei uns waren früher der hohe Beamte und 
das Volk doch zwei Dinge, zwischen denen keine Verbin- 
dung bestand. - 
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) 
Wenn drüben in England die Arbeiter nicht mehr weiter 
arbeiten wollten, wenn da die Munitionsherstellung stockte, 
ging der Arbeitsminister zu den Grubenarbeitern, sprach 
zu ihnen und feuerte sie an, und weil sie den Minister 
als Mensch und Persönlichkeit vor sich sahen, weil er 
ihnen Mann gegen Mann gegenüberstand, Vertrauen von 
ihnen heischend, deshalb konnten dort ganz andere Leistungen 
vollbracht werden als bei uns, wo man sich der „Nord- 
deutschen Allgemeinen Zeitung" bediente, wenn man glaubte, 
auf das Volk draußen wirken zu wollen. Dieser voll- 
kommen fehlende Zusammenhang persönlicher Art zwischen 
denen, die da führten, und denen, die geführt werden 
sollten, war letzten Endes der Kardinalfehler, an dem 
schließlich dieses System zusammenbrechen mußte. 
Ich bin der ÜUberzeugung und ich möchte auch der 
neuen Regierung diesen Wunsch sehr mit auf den Weg 
geben: unterschätzen Sie das eine nicht, nun Ihrerseits 
dieses Verhältnis herzustellen. Denn das deutsche Volk 
ist innerlich so konstruiert, daß es starke Führer sehen 
will, daß es geführt sein will, daß es aber auch einen 
Führerwillen verlangt und daß es diejenigen, die es führen, 
als um sein Vertrauen werbend sehen und ihnen sein 
Vertrauen geben will. 
Dieser lebendige Zusammenhang mit dem Volk war 
durch die Erfordernisse des Weltkrieges erwiesen. Denn 
das große Erlebnis des Krieges, das bleibt die Ge- 
meinsamkeit der Idee des Vaterlandes und der Not- 
wendigkeit seiner Verteidigung. Die politische Erziehung 
Ich will nicht von diesem Geiste sprechen. (D
	        
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