(A) dieses Krieges übersprang ganze Jahrzehnte.
(8) hunderte gebraucht haben.
6176
Reichstag. — 193. Sitzung. Dienstag den 22. Oktober 1918.
(Dr. Stresemann, Abgeordneter.)
Ich glaube,
es ist auch ein Uberspringen dieser Entwicklung, wenn wir
jetzt vor dieser Situation stehen, daß die Sozial-
demokratie sich bereit erklärte, in die Regierung
einzutreten. Wir haben uns von vornherein auf
den Standpunkt gestellt, nicht nur grundsätzlich diesen
Willen zu politischer Mitarbeit der Sozialdemokratie an-
zuerkennen, sondern wir haben diese Entwicklung außer-
ordentlich begrüßt. Denn wir müssen darüber klar sein,
daß gegen die ausgesprochene Opposition der zahlenmäßig
größten Partei eine Regierung ohne schwere Erschütte-
rungen gar nicht geführt werden kann, und daß wir solche
Erschütterungen in der jetzigen Zeit unbedingt vermeiden
müssen. Wir haben uns aber weiter auch das eine vor
Augen gehalten, daß gerade in dieser Mitübernahme der
Verantwortlichkeit eine Entwicklung der deutschen Arbeiter-
schaft liegt, die uns so große Perspektiven für die Zu-
kunft eröffnet, daß wir hoffen können, gerade bei einem
Wiederaufbau Deutschlands nach diesem Kriege uns in
ganz anderer Weise diesen Fragen hingeben zu können,
als wenn wir irgendwie mit einer verantwortungslosen
Opposition großer Schichten der Arbeiterschaft rechnen
müßten. Meine Herren, wir stimmen aus diesem Grunde
den Vorlagen der Regierung zu, die diese Mitarbeit ermög-
lichen, ohne daß die Männer, die in die Regierung ein-
treten, den Zusammenhang mit ihren Parteien verlieren.
Diese Vorlagen der Regierung stellen mehr als bisher
den Reichstag in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens,
sie übertragen unmittelbar auf ihn einen hohen Teil der
Regierungsgewalt. Wir gehen in diese Entwicklung hinein
ohne die politische Erziehung Englands, ohne Englands
Gentry, die Bismarck als Voraussetzung des parlamen-
tarischen Systems ansah. Zweifler werden sagen, man
könne nicht in wenigen Wochen eine Entwicklung durch-
machen, zu der andere Völker Jahrzehnte und Jahr-
Aber außerordentliche Ver-
hältnisse erfordern außerordentliche Mittel! Ich möchte
in der Beziehung darauf hinweisen, daß just Bismarck
die große Wirkung solcher Imponderabilien für das innere
Durchhalten und für die Wirkung nach außen sehr hoch
eingeschätzt hat und auch diesen Gedanken in die Tat
umsetzte, als er im Jahre 1867 nach seinem eigenen
prächtigen Wort im Kampfe gegen die Ubermacht des
Auslandes „das gleiche Wahlrecht in die Pfanne warf“.
Damals sagte er: „Dieses Wahlrecht sollte mir eine
Waffe sein im Kampfe gegen Osterreich und im Kampfe
für die deutsche Einheit und zugleich eine Drohung mit
letzten Mitteln im Kampfe gegen Koalitionen."
Meine Herren, das sind drei Gesichtspunkte, die auch
für die heutige Zeit passen. Es gibt manche Leute, die
da glauben, das, was hier geschieht, angreifen zu können,
indem sie sagen: das tut ihr ja nur um des Auslandes
willen! Ja, wenn eine Maßregel, die ich beschließe, gut
in der Welt wirkt, so habe ich keinen Grund, mich des-
halb irgendwie von dieser Maßregel abhalten zu lassen;
und wenn es Mittel zum Zweck ist, dann wäre der Zweck
deshalb nicht verwerflich.
Aber Bismarck sagt auch weiter: „das gleiche Wahl-
recht war mir ein Mittel im Kampfe für die deutsche
Einheit.“ Er versprach sich also davon eine moralische
Wirkung auf die außerhalb Preußens stehenden Völker.
Er glaubte, daß der Süden zum Norden kommen würde,
wenn der Norden dem demokratischen Gedanken des Südens
entgegenkäme.
Wenn er weiter sagt: „ein letztes Mittel im Kampfe
gegen Koalitionen!“ dann liegt doch darin der Gedanke,
daß eine solche politische Freiheit notwendig ist, wenn das
letzte in einem Volke zum Kampfe der eigenen Expistenz
gegen eine Ubermacht des Feindes aufgerufeu werden soll.
Als man Bismarck damals entgegenhielt, daß er mit
diesem gleichen Wahlrecht ja viele bestehende Werte zer= (C)
störte und Traditionen umwürfe: „In einem Kampfe, der
auf Leben und Tod geht, sieht man die Waffen, zu denen
man greift, und die Werte, die man damit zerstört, nicht
an. Der einzige Ratgeber ist zunächst der Erfolg und
Kampf, und das war für mich die Rechtfertigung der
Unabhängigkeit nach außen."
Meine Herren ich erwähne diese Aussprüche nicht,
um sie vollkommen der heutigen Situation anzupassen;
denn sie könnten sonst so ausgelegt werden, als wenn
auch das, was hier geschähe, nur Ausfluß wäre der gegen-
wärtigen Situation, auch nur die Rettung der Unab-
hängigkeit nach außen zum Erfolg haben sollte, später aber
wieder abgebaut werden könnte. Meine Herren, das eine
ist weder zu erwarten, noch je nach der Meinung der
einzelnen zu befürchten, daß diese Verhältnisse sich ändern.
Das ist das Wesen des politischen Fortschritts, daß ein
Schritt auf dem Wege größerer Freiheit niemals zurück-
gemacht werden kann. «
Es ist heute davon gesprochen worden, baß das
deutsche Volk gewissermaßen politisch mündig gesprochen
worden sei. Diejenigen, die davor Angst haben, müßten
eigentlich den Nachweis führen, daß sie an den Fähig-
keiten dieses Volkes zweifeln. Geistig, technisch und in
seinen wirtschaftlichen Leistungen war das deutsche Volk
allen anderen Völkern gleich und überragte sie in jeder
Beziehung. -
(Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.)
Warum soll es nicht auch politisch in seinem Verantwort-
lichkeitsgefühl und dem rechten Erkennen der politischen
Dinge auf derselben Höhe stehen? Wenn wir in Zukunft
dem Reichstag eine erhöhte Verantwortlichkeit geben, ihn
mehr in den Mittelpunkt der Dinge stellen, dann können
wir vielleicht auch das bekämpfen, was Ausfluß des bis-
herigen Materalismus gewesen ist, nämlich die Interesse-
losigkeit des gebildeten und besitzenden Bürgertums gegen-
über der Politik. Wir brauchen die verantwortliche An-
spannung aller Kräfte zum Wiederaufbauen des Reiches
nach dem Kriege. Denn, meine Herren, ob wir nun
bald oder später Frieden erhalten, das eine scheint
mir festzustehen für den Ernst der Zukunft unseres
Volkes: die Lebensaufgabe mindestens dieses Ge-
schlechts wird dem Staate gelten. Was der einzelne
in Zukunft, an welcher Stelle er auch stehen möge,
leistet, das wird er nicht mehr in erster Linie für
sich und für die, die nach ihm kommen, leisten,
sondern das wird er zu leisten haben für die Allgemein-
heit, die in ganz anderen, bisher unerhörten An-
sprüchen das an Volk wird herantreten müssen, um die
Existenz des deutschen Reiches und seine Weiterentwicklung
zu fördern. Ich glaube, über diesem Leben der Zukunft
wird ein Wort stehen, was ein Lieblingswort des alten
Goethe war: „über Gräber vorwärts!" Auch über Gräber
zerstörter Hoffnungen und Illusionen müssen wir dem,
was da kommt, uns entgegenstellen mit dem Willen, dieses
Deutsche Reich und deutsche Volk wieder aufzurichten.
Wenn das harter Arbeit bedarf, und wenn das namentlich
an die besitzenden Stände mit unerhörten Anforderungen
herantritt, so, glaube ich, sollten gerade diejenigen, denen
die Gelegenheit gegeben war, eine andere Erziehung in
sich aufzunehmen, und die deshalb vielleicht auch vom
Zweck und Sinn des Lebens eine andere Vorstellun
haben können als die, die in den Tag hineinleben, sich
darüber mit dem einen hinausheben, daß das Leben für
den Staat und das Leben für das Volk doch wieder ein
Lebensinhalt ist, der etwas Größeres bedeutet als leben
und arbeiten für das eigene Interesse.
Wir hören in der Kritik, daß die monarchische Idee
durch das, was jetzt an Teilung der Gewalten hier zum
Ausdruck kommt, litte. Wir sind und bleiben Monarchisten
(O)