Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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(Stychel, Abgeordneter.) 
Bauernbank“" erboten sich zur Regelung der Grundstücks- 
seuden, wobei viele das Opfer nicht ahnten, daß 
urch die damit verbundene Verfügungsbeschränkung 
beim Verkauf ihre Besitzungen an Wert verloren. 
Das Enteignungsgesetz hat sich noch besser in das Ge- 
dächtnis der ganzen Welt eingeprägt. Als es immer 
schwieriger wurde, polnischen Grundbesitz „freihändig“ zu 
erwerben, schritt man zur gewaltsamen „Enteignung“. 
Der polnische Mann wurde ja früher verdrängt; der 
sollte Platz machen für den deutschen. Aber dann kam 
die Leutenot, und auf einmal war er sehr erwünscht. Er 
sollte hierbleiben, er sollte hier arbeiten; aber er sollte 
fremdes Brot essen, er sollte unter fremdem Dache 
wohnen, auf fremder Scholle arbeiten, denn ihm wurde 
nicht erlaubt, sich aus dem mühsam ersparten Gelde eine 
Hütte zu bauen, seinen Landhunger zu stillen. Es kamen 
Fälle vor, wo trotz gelungenem Landerwerb obdachlose 
Besitzer in Straßengräben, Erdlöchern, Zigeunerwagen 
ahen kampieren müssen. Das ist im Gedächtnis der 
olen. 
Und die Gette oder die administrativen Bestimmungen, 
Verordnungen, Instruktionen auf dem Sprachgebiete, über 
Sprachgebrauch im Amte, in Versammlungen, in der 
Schule, ich deute das nur mit Stichworten an! Die 
Leiden des polnischen Kindes in der Schule, die Be- 
seitigung der polnischen Unterrichtssprache im allgemeinen, 
auch im Religionsunterricht, Geduldsproben von Lehrern 
und Kindern, Züchtigung bei natürlich ungenügenden 
Fortschritten. Ich erinnere daran, wie man das Kind 
zwang, das Gebet zu Gott, die innerste Regung des 
Herzens, in eine fremde, dem Kind unverständliche Sprache 
zu kleiden, und wenn das Kind es nicht tun wollte, wurde 
es gezüchtigt! Ich erinnere nur an Wreschen. Es ist 
nicht die einzige Ortschaft; es ist nur ein krasser Typus 
des Martyriums des Schulkindes. 
ç (Sehr wahr! bei den Polen.) 
Eine lange Reihe von Fällen könnte man hier anführen, 
landesüblich. 
Die wirtschaftliche Entwicklung der Polen war ein 
Dorn im Auge, verschiedenartige Hemmungsversuche: Aus- 
schluß der Polen von staatlichen Erwerbsquellen, Beamten- 
stellen, Submissionen, der Staatsboykott des polnischen 
Kaufmanns und Handwerkers, Heranziehung der Kon- 
kurrenz aus anderen deutschen Provinzen! 
Nach Ausbruch des Krieges, solange die Lage un- 
sicher war, hat man ja „Neuorientierung“ versprochen. 
Davon ist aber nichts gehalten worden. 
Vexationen in der Kriegszeit seitens der Zensur= und 
Kommandobehörden bezüglich Presse, Vereinsgründungen, 
Vereinsversammlungen, Theatervorstellungen! Die Ge- 
nialität schlesischer Kommandostellen wird in die Geschichte 
übergehen. Da wurden Theatervorstellungen verboten, 
weil die Stücke in der literarischen, hochpolnischen Sprache 
verfaßt waren. Man verlangte die behördlicherseits aus- 
findig gemachte sogenannte „wasserpolnische“ Sprache, um 
einen Gegegsatz zwischen Stammpolen und „Wasserpolen“ 
künstlich zu konstruieren und zu erhalten. 
Das ist „Neuorientierung“! 
Es hat sich während des Krieges bei uns eine Partei 
gebildet, „Stronnictwo pracy noradowej“, die Partei für 
nationale Arbeit. Diese Partei hatte sich zur Aufgabe 
gestellt, unter Anlehnung an die bestehenden Verhältnisse 
in Preußen wenigstens eine Art Zufriedenheit im pol- 
nischen Volke zu schaffen. Sie hoffte, von der Regierung 
auf Grund der versprochenen Neuortentierung durch An- 
wendung ihrer besonderen Taktik, mit besserem Erfolg als 
die polnische Volksvertretung im Reichstag und Akbge- 
ordnetenhaus die politische und sprachliche Gleichberechti- 
gung der Polen zu erlangen. In den letzten Tagen 
erklärt diese Partei öffentlich, sie löse sich auf, sie hätte 
  
Reichstag. — 194. Sttung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
auch in dem engen Rahmen nichts erreicht. 
und weitere Aussicht bieten jetzt die Wilsonschen Grundsätze. 
Man begnügte sich aber nicht mit der Polenpolitik 
innerhalb der preußischen Grenzen. Wenn irgend einmal 
in dem russischen oder österreichischen Teilungsgebiet die 
Lage der Polen sich zu bessern schien, kamen von hier aus 
Proteste und Ratschläge auf diplomatischem Wege oder bei 
Zusammenkünften hoher und höchster Personen, um die 
Besserung der Lage zu inhibieren. 
Die Kaisermanifeste über die Bildung eines soge- 
nannten „selbständigen“ Staates in Kongreßpolen, ge- 
priesen als besonderes „Entgegenkommen“, lehnte das Polen- 
volk in seiner kompakten Masse ab. Eine solche, in solchen 
Grenzen gedachte „Selbständigkeit“, bei voller politischer, 
wirtschaftlicher und militärischer Abhängigkeit von den 
Zentralmächten, konnte den Polen nicht passen. Wofür 
sollen denn die Polen dankbar sein, wofür an diesem 
Staate festhalten? Die Politik der preußischen Staats- 
raison rächt sich jetzt am Urheber selbst. 
(Sehr wahr! bei den Polen.) 
Ich sprach vorhin kurz über Vexationen seitens 
der Zensur und Kommandobehörden. Ich möchte auf 
einen Vorfall aus letzter Zeit näher eingehen. Ein Auf- 
ruf der sämtlichen polnischen politischen Organisationen 
und der gesamten polnischen Presse sollte veröffentlicht 
werden. Die deutsche Presse hat ihn bringen können. 
Aber in Posen wurden die Zeitungsleiter vor die amt- 
lichen Stellen zitiert, der Druck untersagt, und wenn ste 
versuchen würden, diesen Aufruf zu veröffentlichen, dann 
würde das ein Landesverrat sein. 
(Hört. hört! bei den Polen.) 
Damit Sie beurteilen können, ob diese Verfügung der Zensur- 
behörde angesichts der Friedensverhandlungen auf Grund 
der auch diesseits approbierten Wilsonschen Grundsätze und 
der freien Besprechung in der deutschen Presse begründet 
und zulässig war, werde ich mir erlauben, den Aufruf, (D) 
der ganz kurz ist, zu verlesen. 
Nach über vier Jahre lang tobenden Kriegs- 
schrecken und unermeßlichen Leiden, von denen die 
besten Kräfte der Menschheit vernichtet werden, 
tauchen aus dem blutigen Chaos die Konturen 
einer neuen Weltordnung auf der Basis der Ge- 
rechtigkeit und des Selbstbestimmungsrechts aller 
Völker auf. Das im Sinne obiger Grundsätze 
festgelegte Programm eines dauerhaften Friedens, 
das in den bekannten Erklärungen des Präsidenten 
Wilson enthalten ist, wurde nunmehr auch durch 
die deutsche Regierung, wie es aus der letzten 
deutschen Friedensnote vom 5. Oktober 1918 zu 
ersehen ist, angenommen. Demgemäß hat auch 
für uns Polen die Stunde geschlagen, in der 
wir unsere Stimme erheben müssen, um die un- 
verjährten Rechte der Nation zu fordern. 
Die Teilung Polens war die krasseste Ver- 
gewaltigung internationaler Gerechtigkeit in der 
Geschichte der Neuzeit, und dadurch wurde sie zur 
Hauptquelle dieser Gewalt= und Bedrückungs- 
politik, die in Europa den Herd ewiger Unruhen 
bis in die heutigen Tage hinein bildete. Wer 
also aufrichtig und ehrlich die Hand zum Auf- 
bauen einer neuen, auf der Achtung des Rechtes 
basierten Zukunft der Völker mit anlegen will, 
der muß die Restitution des den Polen zugefügten 
Unrechts als erste, unerläßliche Bedingung dieses 
großen Werkes betrachten. 
Nur die Vereinigung zu einem Ganzen, aller 
in den polnischen Ländern wohnenden Volksteile, 
die die vollen Rechte eines Staates besitzen, kann 
die Gewährung eines dauernden Bündnisses der 
Völker bilden. 
Eine bessere (O)
	        
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