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Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918.
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(Vizepräsident Dove.)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Graf
von Posadowsky-Wehner.
Dr. Graf v. Posadowsky-Wehner, Abgeord-
neter: Meine Herren, ich habe einmal vor längeren Jahren
hier im Reichstag Gelegenheit genommen, das Wesen der
konstitutionellen Monarchie. klarzuleg-4; ich habe dabei
ausgeführt, daß das Wesen der konstitutionellen Monarchie
darin besteht, daß die vollziehende Gewalt von der gesetz-
gebenden Gewalt streng getrennt ist. Man hat mir darauf
von der linken Seite des Hauses zugerufen, das wäre
bekannt; das lernte ein Student schon im ersten Semester.
Sehr gut! Das ist der beste Beweis dafür, daß diese
Trennung der vollziehenden Gewalt von der gesetzgebenden
die unbedingte Grundlage einer jeden monarchisch konsti-
tutionellen Regierung ist. Aber schon seit längerer Zeit
sind im Reich diese Grenzen immer mehr verwischt worden;
die gesetzgebende Gewalt griff vielfach bereits in die voll-
ziehende Gewalt ein, und die Ratgeber aus dem Reichs-
tage gegenüber einer in ihren Entschließungen unsicheren
Regierung wurden immer zahlreicher.
(Sehr richtig! rechts.)
Dadurch, meine Herren, entstand eine Art Kryptoparla-
mentarismus, den ich für das Wohl des Landes für die
gefährlichste Erscheinung halte.
(Sehr wahr! rechts.)
Es gibt nichts Gefährlicheres im Staatsleben als den
Zustand, daß Personen formell verantworlich sind, die die
sachliche Verantwortung nicht tragen,
(sehr richtig! rechts)
und daß Personen die sachliche Verantwortung haben, die
nicht die formelle Verantwortung vor der Offentlichkeit zu
tragen bzaben. Nun, meine Herren, haben uns gegenüber
diesem Zustand vor nicht langer Zeit, zum Teil erst vor
Wochen, die preußischen Herren Minister erklärt: die Ein-
führung des gleichen, allgemeinen Wahlrechts braucht die
parlamentarische Regierung nicht zu bedingen.
(Sehr richtig! rechts.)
Sie haben uns feierlich erklärt: es bleibt dabei: der
König ernennt die Minister; eine parlamentarische Regie-
rung in dem Sinne wird nicht kommen. Die parlamen-
tarische Regierung ist aber jetzt trotzdem gekommen, und
wenn die Herren Minister ihrer Zeit behauptet und er-
klärt haben, der König ernennt die Minister, so ist das
nur dem Buchstaben nach richtig. In der parlam eutarischen
Regierung werden von den Mehrheitsparteien die Minister
ausgewählt, und der Träger der Krone vollzieht nur die
Ernennungen. So ist es tatsächlich in England, und so
ist es in sämtlichen anderen parlamentarisch regierten
Staaten. Ich habe deshalb die letzte Entwicklung, durch
die wir unbestritten uach dem ersten und zweiten vom
Herrn Reichskanzler verlesenen Programm eine parlamen-
tarische Regierung haben, als eine Erlösung betrachtet
gegenüber dem bisherigen Kryptoparlamentarismus.
(Beifall rechts.)
Jetzt wissen wir doch, wer verantwortlich ist, wer regiert,
an wem wir uns halten können,
(sehr richtig! links)
und ich meine, diese parlamentarische Regierung, wenn
man ohne politische Trübung die Verhältnisse betrachtet,
ist schließlich die schlüssige Folge von lange zurückliegenden
Verhältnissen und von den neuesten Ereignissen. Der
Herr Abgeordnete Naumann hat den Parteien der Minderheit
erklärt, die Minderheit würde jetzt eine dauernde und be-
ständige Kritik an den Handlungen der parlamentarischen
Regierung üben. Ich Lite daß die Minderheitsparteien
in diesen politischen Fehler nicht verfallen werden, sondern
daß sie politisch genug sind, um die Maßregeln der neuen
parlamentarischen Regierung von Fall zu Fall sachlich
und unparteiisch zu prüfen und danach ihre Stellung ein= (O
zunehmen.
(Sehr gutt rechts.)
Es ist unzweifelhaft, daß gegen das parlamentarische
Regierungssystem schwere Bedenken vorliegen, schwere
Bedenken namentlich in einem Bundesstaat. Man kann
auf Amerika hinweisen, was entweder ein Bundesstaat
oder ein Staatenbund ist; das ist ein professoraler Streit
um Worte, auf den ich hier nicht eingehen will. In
Amerika wird der Präsident gewählt; er besetzt die Staats-
stellungen ausnahmslos mit Anhängern seiner Politik und
Mitgliedern seiner Partei, aber wenn der ochsideut erst
einmal gewählt ist, dann hat er viel weitergehende Be-
fugnisse gegenüber dem amerikanischen Senat und gegen-
über dem Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten
als irgend ein konstitutioneller Monarch.
(Zurufe.)
Die Minderheitsparteien werden, nehme ich an, ganz
abgesehen davon, wie die parlamentarische Regierung ent-
standen ist und aus welchen Männern sie besteht, alle
Maßregeln jedenfalls unterstützen, die diese Regierung zur
Verteidigung und zur Wiederaufrichtung des Vaterlandes
ergreift.
(Sehr richtig! rechts.)
Diejenigen Parteien, die von dieser Regierung ausge-
schlossen sind, können sich vielleicht damit trösten, daß auch
in diesem hohen Hause sich die Mehrheitsparteien einmal
anders gruppieren werden und sie damit vielleicht auch
die Gelegenheit erlangen, sich ebenfalls an der Regierung
des Reichs zu beteiligen. Im allgemeinen aber werden
parlamentarische Regierungen nicht von den Minderheiten
gestürzt, sondern meistens von ihren eigenen Parteien.
(Sehr richtig! rechts.)
Und das ist natürlich. Wenn man nur Parlamentarier
ist, kann man politische Forderungen ohne alle Neben-
rücksichten theoretisch klar zum Ausdruck bringen und als (D)
politisches Programm aufstellen. Sobald aber Parla-
mentarier in die Regierung kommen, überzeugen sie sich
sehr schnell, daß man gegenüber gewordenen Zuständen,
gegenüber den sich kreuzenden Interessen der Bevölkerung,
gegenüber bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, die man
nicht sämtlich sofort ausräumen kann, in zahlreichen Fällen
von seinem Programm abweichen, daß man den tatsäch-
lichen Verhältnissen Rechnung tragen muß. So entsteht
sehr leicht und sehr bald bei den eigenen Parteien des
parlamentarischen Ministers ein gewisses Mißtrauen,
schließlich offene Gegnerschaft; die Führer der Parteien
glauben, daß sie in der Lage sein würden, das Partei-
programm auch in der Regierung klarer, entschiedener
zum Ausdruck zu bringen, und so wird schließlich die be-
stehende Parlamentsregierung von der eigenen Partei
gestürzt.
(Sehr richtig! rechts.)
Meine Herren, so vollzieht sich in den parlamentarisch
regierten Staaten, namentlich in den romanischen Ländern,
fortgesetzt das unerfreuliche parlamentarische Spiel: Hebe
dich fort, damit ich mich auf deinen Platz setzen kann!
(Sehr gutl rechts. — Lachen links.)
Die Folge hiervon ist, daß sich die Minister im parla-
mentarischen Kampf erschöpfen und gar nicht dazu
kommen, sich sachlich in ihr Geschäftsgebiet einzuarbeiten;
die sachliche Arbeit leisten nachgeordnete unverantwortliche
Beamte. Ich hoffe, daß uns dieses Schauspiel erspart
bleibt. Deutschland, unser zwischen Feinden liegendes
Binnenland, ist wirklich nicht von der Natur so reich be-
schenkt, um einen solchen fortgesetzten Wechsel der Re-
gierung, solche stete Unruhe des öffentlichen Lebens ertragen
zu können. Bisher haben wir romanische Parlaments-
sitten nachgeahmt, indem eine Rede des Reichskanzlers
angeschlagen ist, die schon durch alle Zeitungen verbreitet
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