Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

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(Dr. Graf v. Posadowsky--Wehner, Abgeordneter.) 
(A) war, und indem eine Vertrauenserklärung beantragt ist, 
die öffentlich wenigstens die Regierung nicht verlangt hatte. 
Meine Herren, ich habe auch im Lande gehört, daß 
sich die Gegner der parlamentarischen Regierung mit der 
Hoffnung tragen, es handle sich nur um einen Zustand 
vorübergehender Art während des Krieges; wenn Frieden 
sei, werde alles wieder anders und die bisher bestehende 
konstitutionell-monarchische Regierung trete wieder in ihre 
volle Vollzugsgewalt. — Ich halte diesen Glauben für 
einen starken Irrtum. 
(Sehr richtig! links.) 
Wenn die Volksvertretung sich in einem Lande einmal 
erst die parlamentarische Regierung erobert hat, so ist es 
vollkommen ausgeschlossen, daß die alten Zustände wieder 
hergestellt werden. Daß diese alten Zustände wiederkehren, 
könnte nur unter einer Voraussetzung möglich sein: es 
könnte erfolgen, wenn das deutsche Volk durch einen wirt- 
schaftlichen Niederbruch so erschöpft und gleichgültig würde, 
daß es sich für die politischen Angelegenheiten, für die 
Art der Regierungsform überhaupt nicht mehr interessierte. 
Dann wäre es möglich, daß ein geschickter und ent- 
schlossener Mann die volle Vollzugsgewalt der konstitu- 
tionellen Regierung wieder herstellte. Ich möchte aber 
hoffen, daß Deutschland vor einem solchen wirtschaftlichen 
und politischen Niederbruch bewahrt bleibt. 
Der Abgeordnete Ebert hat gestern erklärt: jetzt, 
nachdem die parlamentarische Regierung eingerichtet sei, 
müßten wir mit dem „Junkertum“ gründlich aufräumen, 
von oben bis unten. Ich würde dem Herrn Abgeordneten 
Ebert außerordentlich dankbar sein, wenn er mir bei 
Gelegenheit einmal erklären wollte, was er unter „Junker- 
tum“ versteht. 
(Heiterkeit rechts und Zuruf von den Sozialdemokraten.) 
Versteht der Herr Abgeordnete Ebert unter „Junkern“ 
die Mitglieder der alten geschichtlichen Familien, die mit 
(8) ihrem Namen einen Adelstitel verbinden? Versteht er 
unter „Junkern“ die neuen Familien, die sich durch 
Intelligenz und Fleiß heraufgebracht haben und denen 
auf ihren Wunsch ein Adelstitel verliehen ist? Versteht 
er unter „Junkern“ alle diejenigen Politiker, die auf dem 
Boden der konservativen Weltanschauung stehen? 
(Zuruf von den Sozialdemokraten; Lachen rechts.) 
Oder versteht er unter „Junkern" die Beamten und Leute, 
die einmal hin und wieder eine politische Taktlosigkeit be- 
gehen, einen politischen Mißgriff, was bei Herren aller 
Parteien vorkommt? 
(Sehr richtig! rechts.) 
Deshalb, mit diesem allgemeinen Schlagwort „Junkertum“ 
ist wirklich nichts mehr zu machen. Ich möchte den Herrn 
Abgeordneten Ebert bitten, einmal das preußische Staats- 
handbuch und das Reichshandbuch nachzusehen; dann wird 
er finden, wie gering jetzt der Prozentsatz unter den amt- 
lichen Organen ist, die man in diesem Sinne als „Junker“ 
bezeichnen könnte, 
(na, nal bei den Sozialdemokraten) 
und wie überwiegend die Mehrheit der Beamten ist, die 
sich aus kleinen Verhältnissen durch Tüchtigkeit und Fleiß 
ie leitende Stellungen emporgearbeitet haben. 
(Zuruf links.) 
— Nein, auch wenn sie nicht konservativ waren! 
(Erneuter Zuruf.) 
— Auf den auswärtigen Dienst will ich noch zu sprechen 
kommen; da stimme ich vielleicht in manchem mit Ihnen 
überein! Lassen Sie doch auch den Beamten ein bißchen 
Beamtenstolz bei ihrem schmalen Gehalt! Daß keine 
Regierung einen passiven oder aktiven Widerstand ihrer 
nachgeordneten Beamten dulden kann, ist selbstverständlich, 
Meine Herren, ich möchte mir nun gestatten, mit 
einigen Worten auf die Rede des Herrn Reichskanzlers 
einzugehen. Der Herr Reichskanzler hat gesagt: 
  
Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
  
° — 
Wer frei von der Verantwortung ist, der ist frei (C) 
in der Kritik. 
Ich meine, in der jetzigen ernsten Zeit ist ein jeder ver- 
antwortlich; vor allen Dingen ist auch jedes einzelne Mit- 
glied des Parlaments verantwortlich. Fichte hat einmal 
gesagt: „Wenn das Vaterland in Gefahr ist, muß jeder 
so handeln, als ob er allein die Verantwortung für das 
Los des Vaterlandes trüge“. 
(Sehr richtig! links.) 
Ich kann also diesen von dem Herrn Reichskanzler aus- 
gesprochenen Grundsatz für die Mitglieder dieses Hauses 
nicht als richtig anerkennen. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Ich will mir aber erlauben, noch einige weitere Be- 
merkungen zu der Rede des Herrn Reichskanzlers zu 
machen. Er hat wörtlich gesagt: 
Wir müssen das Glück und das Recht anderer 
Völker in unseren nationalen Willen aufnehmen. 
Meine Herren, daß wir das Recht anderer Völker in 
unseren nationalen Willen aufnehmen, damit bin ich 
vollkommen einverstanden, und ich glaube, niemand hat 
diesen Gedanken staatsrechtlich klarer zum Ausdruck ge- 
bracht als der Fürst Bismarck, dessen Politik man ja 
gestern offiziell liquidiert hat. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Wenn Sie die Reden des Fürsten Bismarck aus den 
achtziger Jahren nachlesen, wo er sich über die auswärtige 
Politik des Deutschen Reichs aussprach, dann werden 
Sie finden, mit welcher Vorsicht dieser Staatsmann die 
Empfindlichkeit anderer Völker geschont hat, 
sehr richtig! links) 
welches Verständnis er für den Seelenzustand anderer 
Völker hatte. 
(Erneute Zustimmung links.) 
Vielleicht hat man in dieser Richtung bei uns nicht immer 
fortgearbeitet. 
(Sehr wahr! links.) 
Wir sollen aber auch das Glück anderer Nationen in 
unseren nationalen Willen aufnehmen. Wie meint der Herr 
Reichskanzler das? Ich frage: wie sollen wir das Glück des 
französischen Volkes in unseren nationalen Willen aufnehmen, 
(Zustimmung rechts) 
dieses französischen Volkes, das seit 250 Jahren der Feind 
Deutschlands ist, das Deutschland zum Schlachtfelde 
Europas seit 250 Jahren gemacht und solch unsägliches 
Unglück über unser Vaterland gebracht hat? 
(Lebhafte Zustimmung rechts.) 
Wie sollen wir das Glück des französischen Volkes in 
unseren nationalen Willen gufnepmen, das Deutschland 
mit geradezu sadistischem Haß verfolgt? Wie sollen wir 
das Glück Englands in unseren nationalen Willen auf- 
nehmen, dieses gewaltigen Staatsgebäudes, das man 
leider bei uns so sehr unterschätzt hat, dieses Kolosses, 
der in allen Teilen der Welt verankert ist und durch List 
und Gewalt ein Reich zustande gebracht hat, das die 
balbe Welt umfaßt? Wie sollen wir das Glück Englands 
iue unseren nationalen Willen aufnehmen, dessen aus- 
wärtiger Minister noch vor wenigen Tagen die Deutschen 
„Tiere“ genannt hat? Wie sollen wir das Glück Italiens 
in unseren nationalen Willen aufnehmen, das so schänd- 
lichen Treubruch an uns verübte? Von diesem Welt- 
bürgergeist bin ich für meine Person nicht erfüllt. 
(Bravol rechts.) 
Das ist der Weltbürgergeist, der im Anfang des vorigen 
Jahrhunderts jene feingeistige Schwäche und seelische 
Hoffnungslosigkeit erzeugte, die schließlich zum Niederbruch 
von Jena führte. „Seid umschlungen Millionen, diesen 
Kuß der ganzen Welt.“ 
(Sehr richtig! rechts. — Zuruf von den Unabhängigen 
Sozialdemokraten.) 
(-D)
	        
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