Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
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(Dr. Graf v. Posadowsky-Wehner, Abgeordneter.) 
(A) Man hat in Frankreich und England, in der englischen 
und französischen Presse, auch im englischen und franzö- 
sischen Parlament die Forderung erhoben: Abtretung der 
Westmark, Abtretung von Elsaß-Lothringen, Vereinigung 
der ehemals polnischen Landesteile mit einem zu bildenden 
Köuigreich Polen. Man will aus den Milsonschen 
14 Punkten herauslesen, daß diese Forderungen der fran- 
zösischen und englischen öffentlichen Meinung, wie sie sich 
in der Presse darstellt, auch die Forderungen Wilsons sind. 
Was zunächst die Rüchgabe von Elsaß-Lothringen 
betrifft, so würde es mir nicht verständlich sein, wenn der 
Präsident Wilson diese Forderung überhaupt erheben 
würde. Warum sollte der Präsident Wilson auf das 
Jahr 1870 zurückgehen, wo wir dieses alte deutsche Land 
nur wieder erworben haben? Wenn er auf dem Stand- 
punkt steht, daß die Nationalitäten geachtet werden müssen, 
warum geht er da nicht auf die Zeit zurück, wo 
Ludwig XIV. dieses Land mit Gewalt und Trug dem 
deutschen Vaterlande entriß. 
(Sehr richtig; rechts.) 
Elsaß ist überwiegend ein deutsches Land, ein reichs- 
deutsches Land. Im Mittelalter ging die französisch- 
deutsche Grenze noch viel weiter westlich! Wenn wir 
Elsaß-Lothringen verlieren, so ist das der schwerste Schlag, 
der gegen die deutschen Arbeiter geführt werden kann. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Zwei Drittel unserer Eisenerze, die wir verarbeiten, 
kommen aus Lothringen. Von 29 Millionen Tonnen 
Eisenerz, das die deutsche Eisenindustrie verarbeitet, 
stammen 21 Millionen Tonnen aus Lothringen. Von der 
Eisenindustrie leben, wenn wir die Familien der Arbeiter 
mit in Rechnung ziehen, 6—7 Millionen Menschen, und 
allein von dem Eisen, das aus Lothringen in die deutschen 
Eisenwerke kommt, leben mit den Familien zusammen 
4—5 Millionen Menschen. Wenn wir diese Eisenwerke 
(B) von Lothringen verlieren, so würde das ein Zusammen- 
bruch eines großen Teils unserer Schwereisenindustrie sein 
und damit der Verlust der gewohnten Arbeit für Millionen 
Arbeiter. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Das Kali, für welches wir eine Art Monopol haben, 
die Kaliwerke bei Mülhausen, waren das beste Faustpfand 
dafür, das wir von den übrigen Staaten nach dem Kriege 
handelspolitisch nicht ausgesperrt werden können. Auch 
dieses Faustpfand würden wir verlieren. 
Aber die Frage hat auch eine ernste militärische 
Seite. Der belgische sozialdemokratische Abgeordnete 
d'Estrées hat an den König von Belgien einen Brief ge- 
schrieben, in dem er sagte „Sire, il n'y a pas des Belges“: 
„es gibt keine Belgier“. Belgien ist — das ist richtig — 
ein im Jahre 1830 auf Betreiben Englands künstlich zu- 
sammengeschweißter Staat; er besteht aus den germanischen 
Flamen und den romanischen Wallonen. Es war eine 
richtige Politik der deutschen Regierung, die Politik der 
lamen zu unterstützen, die ein selbständiges flämisches 
taatswesen bilden wollten, eventuell in einer Personal- 
union mit dem wallonischen Teil des jetzigen Königreichs 
Belgien. Die Männer, die sich jetzt für diese Frage ein- 
gesetzt haben, sind nach Beendigung des Krieges in höchster 
Gefahr, in Gefahr ihres Lebens. 
(Sehr richtig! rechts.) 
Diese Flamenpolitik der deutschen Regierung hatte den 
verständigen Zweck, zu verhindern, daß Frankreich, das 
zwanzigmal in der Geschichte den Versuch gemacht 
hat, Belgien zu annektieren, seinen Einfluß in Belgien 
weiter verstärkt. Die belgische Regierung hat alle 
Mittel angewendet, um die Flamen zu französieren, das 
belgische Offizierkorps ist durchaus französisch gesinnt. 
Es könnte uns in der Zukunft außerordentlich gefährlich 
werden, falls Belgien noch weiter in die französische Ein- 
  
flußsphäre übergeht, wenn sich die Flamen nicht als (C) 
Gegengewicht geltend machen können. Man braucht kein 
Stratege zu sein; man braucht nur die Karte anzusehen, 
um zu erkennen, daß der Verlust der Reichslande und 
ein unter starkem Einfluß Frankreichs stehendes 
Belgien das linke Rheinufer bei künftigen kriege- 
rischen Verwicklungen aufs äußerste gefährden. In 
seinen vier Punkten sagt Wilson, „man solle die Völker 
nicht durcheinanderwerfen wie die Steine eines Spiels." 
Napoleon I. tat das, aber an der Spitze seiner Heere. 
Mr. Wilson scheint dasselbe von seinem Schreibtisch im 
Weißen Hause in Washington jenseits des Atlantischen 
Ozeans telegraphisch tun zu wollen. 
(Zuruf von den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
— Lassen Sie mich doch meine Gedanken hier aussprechen; 
ich meistere ja auch nicht Ihre Gedanken. 
Meine Herren, als die neue parlamentarische Re- 
gierung geschaffen wurde, sagte man uns, daß sich nun 
erst die ungeteilte Volkskraft zeigen würde, die eine Bürg- 
schaft für die weitere Verteidigung des Landes sei. Kürz- 
lich ist in einer öffentlichen Versammlung das Wort ge- 
fallen, nach Jena käme Leipzig — meines Erachtens ein 
bedenkliches Wort! Wir haben bisher noch kein Jena 
erlebt. Wir haben noch Millionen Soldaten im Felde 
stehen, wir stehen noch in Feindesland, und ich glaube, 
in dieser schweren Zeit muß jeder, der es mit seinem Lande 
gut meint, dazu beitragen, daß der Geist von Jena nicht 
umherschleicht: 
(Zustimmung rechts) 
der Geist der Schwäche und der Hoffnungslosigkeit. 
(Lebhafte Zustimmung rechts.) 
Wir haben uns bereit erklärt, die besetzten Gebiete 
zu räumen — ein Zugeständnis, das mit allen mir 
wenigstens bekannten Waffenstillstandsverträgen nicht über- 
einstimmt. In anderen Waffenstillstandsverträgen stand 
immer: „Die kämpfenden Parteien dürfen ihre Stellung (D) 
nicht verändern.“ Wir haben uns ferner bereit er- 
klärt, Passagierschiffe nicht mehr zu torpedieren. Der 
Zweifel ist durchaus berechtigt, ob es richtig war, den 
U-Boot--Krieg zu führen und damit die Vereinigten Staaten 
von Nordamerika zu veranlassen, auf die Seite unserer 
Feinde zu treten. Aber, nachdem der unbeschränkte II-Boot- 
Krieg einmal angefangen worden ist — und dafür haben 
sich auch die Sozialdemokraten erklärt —, sollte er auch fort- 
gesetzt werden. Mir ist bestimmt versichert worden, daß 
auch der Abgeordnete Dr. David sich in dem Sinne aus- 
gesprochen hat, daß der Unterseebootkrieg, nachdem er ein- 
mal begonnen sei, auch fortgesetzt werden müsse, und ich 
habe hier eine Schrift Ihres (zu den Sozialdemokraten) 
Genossen Cohen, der sich in demselben Sinne ausspricht. 
Hinfort wird aber selbstverständlich jedes Schiff, das 
Munition, Kriegsgeräte oder Lebensmittel führt, als 
„Passagierschiff“ frisiert werden. 
(Zustimmung rechts.) 
Deshalb ist das Zugeständnis, das wir dem Präsidenten 
Wilson angetragen haben, tatsächlich ein Abbau des 
1U Boot-Krieges. 
Die Grenze der Zumutungen, denen wir uns noch 
unterordnen können, scheint mir ziemlich nahe zu sein; wir 
müssen uns darauf vorbereiten, daß alle unsere Versuche, 
zu einem ehrenhaften Frieden zu gelangen, keinen Erfolg 
haben könnten und wir deshalb weiter kämpfen müssen 
für unsere Ehre und für unsere Zukunft. 
(Lebhafter Beifall rechts.) 
Präsident: Ich erteile das Wort dem Herrn Ab- 
geordneten Ricklin. 
Ricklin, Abgeordneter: Meine Herren, im Namen 
der hier anwesenden Mitglieder der elsaß-lothringischen 
Gruppe habe ich folgende Erklärung abzugeben:
	        
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