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Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918.
(aussen, Abgeordneter.)
zweifellos manifestierten Willen einem unmittel-
bar angrenzenden Nachbarstaat ihrer Nationalität
angehören will, keine Stärkung der Macht be-
deutet, von welcher sie sich zu trennen bestrebt
ist. Wir haben die Bestimmung übernommen,
und Preußen muß sie halten; aber wir werden
ste so zur Ausführung bringen, daß über die Ab-
stimmung, auf deren Grund wir verfahren, über deren
Freiwilligkeit und Unabhängigkeit und über den
definitiven Willen, der dadurch kundgegeben wird,
kein Zweifel bleibt.
Ein trefflicher Grundsatz, ein verpflichtendes Wort!
Die dänische Bevölkerung Nordschleswigs gab in den
folgenden Zeiten immer und immer wieder ihren Wünschen
und ihrem Willen klaren Ausdruck. Aber, meine Herren,
Jahre vergingen, ohne daß die von Preußen vertraglich
übernommenen Verpflichtungen, eine Volksabstimmung in
Nordschleswig vorzunehmen, ausgeführt wurde.
(Hört! hört! bei den Polen und Unabhängigen
Sozialdemokraten.)
1877 stellte einer meiner Vorgänger, der Abgeordnete
Krüger, deshalb hier im Reichstag mit Unterstützung aus
dem Zentrum den Antrag, die Regierung aufzufordern,
„sofort Vorkehrungen dahin zu treffen, daß das durch den
96 des Prager Friedens den Nordschleswigern gewährte
echt der freien Meinung über die staatsrechtliche Ange-
hörigkeit derselben baldigst verwirklicht werde.“
Am 19. April 1877 stand der Antrag hier zur Ver-
gandlung. In der Debatte konstatierte der Vertreter des
eichskanzlers, Staatssekretär v. Bülow, daß die Auf-
sasung der Reichsregierung in dieser Frage gerade dieselbe
ei, die Bismarck 11 Jahre früher in seinen vorerwähnten
Ausführungen aufsgestellt hatte.
Bei dieser Gelegenheit nahm auch der Abgeordnete
Windthorst das Wort, und Sie, meine Herren aus dem
Zentrum, wird es sicherlich ganz besonders interessteren,
was dieser hervorragende und weitblickende Staatsmann
— ber. Frage ausführte. Der Abgeordnete Windthorst
ärte:
Ich stimme uur deshalb nicht für den Antrag,
weil ich glaube, daß diese sehr delikate Frage
von uns nach allen Seiten nicht übersehen werden
kann, weil ich glaube, daß der Zeitpunkt und die
Modalitäten der Verhandlungen von unserer Re-
gierung so ausgewählt werden müssen, wie die
öffentlichen Verhältnisse Europas ihr das rat-
lich erscheinen lassen. Da ich in der Hinsicht
nicht klar sehe, so kann ich mich in diesem Augen-
blick für den Antrag nicht erklären, denn indem
ich dies täte, würde ich glauben, zu verlangen,
daß jetzt sofort die Regierung in beantragter
Weise vorgehen soll. Ich wiederhole aber, daß,
wenn ich aus diesen Gründen nicht für den An-
trag heute stimme, ich doch das den Nord-
schleswigern aus dem Art. 5 des Prager
Friedens erwachsene Recht in vollem Maße
anerkennen muß, und daß es nicht wohl-
getan ist, derartige Dinge so auf die lange
ank zu schieben und gleichsam vergessen machen
zu wollen. Es werden solche Sachen nicht ver-
gessen, sondern tauchen sehr oft in den un-
gelegensten Augenblicken auf.
(Hörtl hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Ich vertraue aber zu unserer auswärtigen Leitung,
daß sie den ersten besten ihr sich darbietenden
Augerblick ergreifen wird, um die Sache aus der
Welt zu bringen.
Meine Herren, soweit Windthorst! Seine Hoffnung
ging leider nicht in Erfüllung. Zwei Jahre später ver-
Reichstag. II. 1914/1918. 194. Sitzung.
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öffentlichte Preußen ganz unerwartet den Vertrag vom (O
11. Oktober 1878, wonach mit Zustimmung Osterreichs
die Nordschleswig treffende Bestimmung in dem § 5 des
Prager Friedensvertrages für aufgehoben erklärt wurde.
(Hört! hörtl bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Die nackte Gewalt triumytert= wieder über das Recht.
Die von Windthorst feierlich den Nordschleswigern zuer-
kannten Rechte wurden mit Füßen getreten.
Eine höchst unglückliche Zeit brach damit über Nord-
schteswig hinein. Im Vertrauen auf Preußens Vertrags-
reue und Bismarcks feierliche Zusage waren über ein
Drittel der nordschleswigschen Bevölkerung bis dahin
ausgewandert, weil sie sich unglücklich unter dem preußischen
Regiment fühlten. Für die in ihrem Heimatland Ge-
bliebenen begann eine Zeit der sprachlichen Unterdrückung,
der nationalen Vergewaltigung, der politischen Drang-
salierung, die 1899 bis 1903 in der sogenannten Köller-
politik, die damals, wie viele der Herren sich erinnern werden,
den Reichstag drei Tage lang beschäftigt hat, kulminierte.
Ich will heute, wo das alte System zusammengebrochen
und ein neues Deutschland im Entstehen begriffen ist,
nicht weiter darauf eingehen. Aber eins, meine Herren,
muß ich doch heute hier konstatieren: Wenn das deutsche
Volk in diesen schweren Kriegsjahren oft Sympathien in
den benachbarten und verwandten nordischen Nationen
schmerzlich vermißt hat, müssen Sie das nicht zum
wenigsten auf Preußens ungerechte, gewaltsame, rücksichts-
lose und harte nordschleswigsche Politik zurückführen.
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Meine Herren, eine neue Zeit bricht jetzt heran. Die
Männer, die heute in Deutschland am Ruder stehen,
haben sich in der Beantwortung der Papstnote, die
mit zum Regierungsprogramm gehört, zu der lber-
zeugung bekannt, daß künftig an Stelle der materiellen
Macht der Waffen die moralische Macht des Rechts
treten muß, daß der kranke Körper der monschlichen (p)
Gesellschaft nur durch eine Stärkung der sittlichen Kraft
des Rechts gesunden kann, und mit dem Wilsonprogramm
at die neue Regierung das Selbstbestimmungsrecht der
ölker anerkannt. Wir hoffen, daß sie auch bereit ist, bei
dem bevorstehenden Friedensschluß eine Politik des Rechts
und der Gerechtigkeit, eine Politik der wirklichen Ver-
söhnung uns — und ich möchte hinzufügen, Dänemark
und Skandinavien gegenüber, durchzuführen.
Denn darüber sollten Sie sich nicht täuschen, meine
Herren: Ganz Skandinavien folgt mit seinen wärmsten
Sympathien dem Schicksal des kleinen tapferen süd-
jütischen Volksstammes. Von Henrik Ibsen und Björnstjerne
Björnson in Norwegen bis zu Selma Lagerlöf und Ellen
Key in Schweden, von den großen dänischen Dichtern des
vorigen Jahrhunderts bis zu Harald Höffding und Georg
Brandes und über diese hinaus zu der jüngeren Gene-
ration haben fast alle hervorragenden Vertreter des
Geisteslebens im Norden immer und immer wieder eine
gerechte Lösung der nordschleswigschen Frage verlangt.
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
In den letzten Zeiten hören wir wieder Tausende von
Stimmen aus dem Norden, die in dieser Frage an die
Gerechtigkeit und — merken Sie sich das, meine Herren —
an die politische Klugheit des deutschen Volkes appellieren.
Charakteristisch in dieser Beziehung ist folgende Außerung
des deutschfreundlichen Dozenten Dr. Fredrik Paasche an
der Univerfität Christiania, die ich einem Artikel, den er
in den letzten Tagen in der norwegischen Zeitung
„Tidens Tegn“ veröffentlicht hat, entnehme:
Die Gedanken dreier Völker gehen in diesen
Tagen nach Nordschleswig. Dieser Name ist
in Wilsons Friedensprogramm nicht erwähnt.
Laßt uns ihn mit unserer ganzen Kraft
nennen. Die Treue, welche die Nordschleswiger
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