Full text: Verhandlungen des Reichstags. 314. Band. (314)

(B) 
Reichstag. — 194. Sitzung. Mittwoch den 23. Oktober 1918. 
(aussen, Abgeordneter.) 
zweifellos manifestierten Willen einem unmittel- 
bar angrenzenden Nachbarstaat ihrer Nationalität 
angehören will, keine Stärkung der Macht be- 
deutet, von welcher sie sich zu trennen bestrebt 
ist. Wir haben die Bestimmung übernommen, 
und Preußen muß sie halten; aber wir werden 
ste so zur Ausführung bringen, daß über die Ab- 
stimmung, auf deren Grund wir verfahren, über deren 
Freiwilligkeit und Unabhängigkeit und über den 
definitiven Willen, der dadurch kundgegeben wird, 
kein Zweifel bleibt. 
Ein trefflicher Grundsatz, ein verpflichtendes Wort! 
Die dänische Bevölkerung Nordschleswigs gab in den 
folgenden Zeiten immer und immer wieder ihren Wünschen 
und ihrem Willen klaren Ausdruck. Aber, meine Herren, 
Jahre vergingen, ohne daß die von Preußen vertraglich 
übernommenen Verpflichtungen, eine Volksabstimmung in 
Nordschleswig vorzunehmen, ausgeführt wurde. 
(Hört! hört! bei den Polen und Unabhängigen 
Sozialdemokraten.) 
1877 stellte einer meiner Vorgänger, der Abgeordnete 
Krüger, deshalb hier im Reichstag mit Unterstützung aus 
dem Zentrum den Antrag, die Regierung aufzufordern, 
„sofort Vorkehrungen dahin zu treffen, daß das durch den 
96 des Prager Friedens den Nordschleswigern gewährte 
echt der freien Meinung über die staatsrechtliche Ange- 
hörigkeit derselben baldigst verwirklicht werde.“ 
Am 19. April 1877 stand der Antrag hier zur Ver- 
gandlung. In der Debatte konstatierte der Vertreter des 
eichskanzlers, Staatssekretär v. Bülow, daß die Auf- 
sasung der Reichsregierung in dieser Frage gerade dieselbe 
ei, die Bismarck 11 Jahre früher in seinen vorerwähnten 
Ausführungen aufsgestellt hatte. 
Bei dieser Gelegenheit nahm auch der Abgeordnete 
Windthorst das Wort, und Sie, meine Herren aus dem 
Zentrum, wird es sicherlich ganz besonders interessteren, 
was dieser hervorragende und weitblickende Staatsmann 
— ber. Frage ausführte. Der Abgeordnete Windthorst 
ärte: 
Ich stimme uur deshalb nicht für den Antrag, 
weil ich glaube, daß diese sehr delikate Frage 
von uns nach allen Seiten nicht übersehen werden 
kann, weil ich glaube, daß der Zeitpunkt und die 
Modalitäten der Verhandlungen von unserer Re- 
gierung so ausgewählt werden müssen, wie die 
öffentlichen Verhältnisse Europas ihr das rat- 
lich erscheinen lassen. Da ich in der Hinsicht 
nicht klar sehe, so kann ich mich in diesem Augen- 
blick für den Antrag nicht erklären, denn indem 
ich dies täte, würde ich glauben, zu verlangen, 
daß jetzt sofort die Regierung in beantragter 
Weise vorgehen soll. Ich wiederhole aber, daß, 
wenn ich aus diesen Gründen nicht für den An- 
trag heute stimme, ich doch das den Nord- 
schleswigern aus dem Art. 5 des Prager 
Friedens erwachsene Recht in vollem Maße 
anerkennen muß, und daß es nicht wohl- 
getan ist, derartige Dinge so auf die lange 
ank zu schieben und gleichsam vergessen machen 
zu wollen. Es werden solche Sachen nicht ver- 
gessen, sondern tauchen sehr oft in den un- 
gelegensten Augenblicken auf. 
(Hörtl hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Ich vertraue aber zu unserer auswärtigen Leitung, 
daß sie den ersten besten ihr sich darbietenden 
Augerblick ergreifen wird, um die Sache aus der 
Welt zu bringen. 
Meine Herren, soweit Windthorst! Seine Hoffnung 
ging leider nicht in Erfüllung. Zwei Jahre später ver- 
Reichstag. II. 1914/1918. 194. Sitzung. 
  
6205 
öffentlichte Preußen ganz unerwartet den Vertrag vom (O 
11. Oktober 1878, wonach mit Zustimmung Osterreichs 
die Nordschleswig treffende Bestimmung in dem § 5 des 
Prager Friedensvertrages für aufgehoben erklärt wurde. 
(Hört! hörtl bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Die nackte Gewalt triumytert= wieder über das Recht. 
Die von Windthorst feierlich den Nordschleswigern zuer- 
kannten Rechte wurden mit Füßen getreten. 
Eine höchst unglückliche Zeit brach damit über Nord- 
schteswig hinein. Im Vertrauen auf Preußens Vertrags- 
reue und Bismarcks feierliche Zusage waren über ein 
Drittel der nordschleswigschen Bevölkerung bis dahin 
ausgewandert, weil sie sich unglücklich unter dem preußischen 
Regiment fühlten. Für die in ihrem Heimatland Ge- 
bliebenen begann eine Zeit der sprachlichen Unterdrückung, 
der nationalen Vergewaltigung, der politischen Drang- 
salierung, die 1899 bis 1903 in der sogenannten Köller- 
politik, die damals, wie viele der Herren sich erinnern werden, 
den Reichstag drei Tage lang beschäftigt hat, kulminierte. 
Ich will heute, wo das alte System zusammengebrochen 
und ein neues Deutschland im Entstehen begriffen ist, 
nicht weiter darauf eingehen. Aber eins, meine Herren, 
muß ich doch heute hier konstatieren: Wenn das deutsche 
Volk in diesen schweren Kriegsjahren oft Sympathien in 
den benachbarten und verwandten nordischen Nationen 
schmerzlich vermißt hat, müssen Sie das nicht zum 
wenigsten auf Preußens ungerechte, gewaltsame, rücksichts- 
lose und harte nordschleswigsche Politik zurückführen. 
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
Meine Herren, eine neue Zeit bricht jetzt heran. Die 
Männer, die heute in Deutschland am Ruder stehen, 
haben sich in der Beantwortung der Papstnote, die 
mit zum Regierungsprogramm gehört, zu der lber- 
zeugung bekannt, daß künftig an Stelle der materiellen 
Macht der Waffen die moralische Macht des Rechts 
treten muß, daß der kranke Körper der monschlichen (p) 
Gesellschaft nur durch eine Stärkung der sittlichen Kraft 
des Rechts gesunden kann, und mit dem Wilsonprogramm 
at die neue Regierung das Selbstbestimmungsrecht der 
ölker anerkannt. Wir hoffen, daß sie auch bereit ist, bei 
dem bevorstehenden Friedensschluß eine Politik des Rechts 
und der Gerechtigkeit, eine Politik der wirklichen Ver- 
söhnung uns — und ich möchte hinzufügen, Dänemark 
und Skandinavien gegenüber, durchzuführen. 
Denn darüber sollten Sie sich nicht täuschen, meine 
Herren: Ganz Skandinavien folgt mit seinen wärmsten 
Sympathien dem Schicksal des kleinen tapferen süd- 
jütischen Volksstammes. Von Henrik Ibsen und Björnstjerne 
Björnson in Norwegen bis zu Selma Lagerlöf und Ellen 
Key in Schweden, von den großen dänischen Dichtern des 
vorigen Jahrhunderts bis zu Harald Höffding und Georg 
Brandes und über diese hinaus zu der jüngeren Gene- 
ration haben fast alle hervorragenden Vertreter des 
Geisteslebens im Norden immer und immer wieder eine 
gerechte Lösung der nordschleswigschen Frage verlangt. 
(Hört! hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) 
In den letzten Zeiten hören wir wieder Tausende von 
Stimmen aus dem Norden, die in dieser Frage an die 
Gerechtigkeit und — merken Sie sich das, meine Herren — 
an die politische Klugheit des deutschen Volkes appellieren. 
Charakteristisch in dieser Beziehung ist folgende Außerung 
des deutschfreundlichen Dozenten Dr. Fredrik Paasche an 
der Univerfität Christiania, die ich einem Artikel, den er 
in den letzten Tagen in der norwegischen Zeitung 
„Tidens Tegn“ veröffentlicht hat, entnehme: 
Die Gedanken dreier Völker gehen in diesen 
Tagen nach Nordschleswig. Dieser Name ist 
in Wilsons Friedensprogramm nicht erwähnt. 
Laßt uns ihn mit unserer ganzen Kraft 
nennen. Die Treue, welche die Nordschleswiger 
854 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.