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Reichstag. — 192. Sitzung. Sonnabend den 5. Oktober 1918.
(Prinz Max von Baden, Reichskanzler.)
() Die preußische Wahlrechtsfrage ist bei der überragenden
Stellung Preußens eine deutsche Frage,
(lebhafte Zustimmung links)
und ich zweifle nicht, daß auch die Bundesstaaten, die in
der Entwicklung ihrer verfassungsmäßigen Zustände noch
zurückstehen, dem preußischen Beispiele entschlossen folgen
werden.
(Bravol links.)
Dabei halte ich unerschütterlich fest an den föderativen
Grundlagen des Reichs als eines Bundesstaates, dessen
einzelne Glieder ihr inneres Verfassungsleben in voller
Selbständigkeit bestimmen, ein Recht, auf das auch Elsaß-
Lothringen vollen Anspruch hat.
(Bravol links.)
Die Selbständigkeit und Vielfältigkeit des Lebens in den
einzelnen Bundesstaaten, das enge Treueverhältnis, das
jeden Deutschen mit seiner Heimat und seinem Landes-
herrn verbindet, sind die Quellen, aus denen die unbe-
schreibliche Kraft, die Vaterlandsliebe und Opferfreudig-
keit des deutschen Volkes während des ganzen Krieges
geslossen sind.
Durch die ganze Kriegszeit haben sich die Klagen
hindurchgezogen über die Handhabung des Belagerungs-
zustandes. Sie haben trennend und verbitternd gewirkt
und die freudige Mitarbeit an den schweren Aufgaben der
Kriegszeit gehemmt.
(Sehr richtig! links.)
Bis auf weiteres können, wie das Beispiel aller krieg-
führenden Staaten lehrt, die außerordentlichen Macht-
befugnisse nicht entbehrt werden, die der Belagerungs-
zustand verleiht. Aber es muß ein enges Verhältnis
zwischen den Militär= und den Zivilbehörden hergestellt
werden,
» (Zurufe links)
das es ermöglicht, daß in allen nicht rein militärischen
(B) Angelegenheiten, also besonders auf dem Gebiete der
Zensur, des Vereins- und Versammlungswesens die Ge—
sichtspunkte der zivilen Verwaltungsbehörden maßgebend
zur Geltung kommen und daß die Entscheidung letzten
Endes unter die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers
gestellt wird.
(Bravol links.)
Zu diesem Zwecke wird ein Befehl des Kaisers an die
Militärbefehlshaber ergehen, und die Kaiserliche Verordnung
vom 4. Dezember 1916 unverzüglich entsprechend aus-
gebaut werden.
Mit dem 30. September 1918, dem Tage des Kaiser-
lichen Erlasses, beginnt eine neue Epoche in Deutschlands
innerer Geschichte.
(Bravol links.)
Die innere Politik, die damit in ihren Grundzügen vor-
gezeichnet ist, ist von entscheidender Bedeutung für die
Frage über Krieg und Frieden. Die Stoßkraft, die die
Regierung in ihren Bestrebungen um den Frieden #at,
5# davon ab, daß hinter ihr ein einheitlicher und fester,
unerschürterlicher Volkswille steht.
Z (Sehr richtigl! links.)
Nur wenn die Feinde fühlen, das deutsche Volk steht ge-
schlossen hinter seinen verantwortlichen Staatsmännern, —
nur dann können Worte zu Taten werden.
· (Bravo!)
Die deutsche Regierung wird bei den Friedens-
verhandlungen dahin wirken, daß in die Verträge Vor-
schriften über Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung
aufgenommen werden, welche die vertragschließenden Re-
gierungen verpflichten, in ihren Ländern binnen einer
gemessenen Frist ein Mindestmaß gleichartiger oder doch
gleichwertiger Einrichtungen zur Sicherung von Leben und
Gesundheit sowie zur Versorgung der Arbeiter bei Krank-
heit, Unfall und Invalidität zu treffen. Ich rechne bei
der Vorbereitung auf den sachkundigen Rat der Arbeiter= (C)
verbände sowohl wie der Unternehmer.
Solange noch deutsche Volksgenossen in Gefangen-
schaft sind, werde ich mich um die warme Fürsorge für
ihr Wohl mit allen Kräften bemühen.
(Bravol)
Der in unserer Gefangenschaft lebenden Feinde werde ich
mich fürsorgend annehmen.
Meine Herren, ich bin überzeugt, daß dieses Programm,
von dem ich nur die Grundzüge dargestellt habe, den
Vergleich mit allen fremden Regierungsgrundsätzen aus-
hält. Noch näher auf Einzelheiten einzugehen, scheint
mir heute nicht angebracht.
(Zurufe links.)
Die Beratungen, die wir vor dem Zustandekommen der
neuen Regierung gepflogen haben, sind zwar selbstverständ-
lich viel mehr in die Tiefe gegangen, als ich in meiner
knappen Zusammenfassung des Wichtigsten heute hier
wiederzugeben vermag. Ich glaube aber andererseits
auch, daß dem hohen Hause jetzt gar nichts daran ge-
legen ist, meine Auffassung über Nebendinge kennen zu
lernen. Das Entscheidende ist, wenn ich die Lage richtig
erfasse, meine Auskunft über den allgemeinen Geist der
neuen Regierung. Denn jeder, der diesen richtig versteht,
kann ohne weiteres daraus folgern, wie die Reichsleitung
sich zu den schwebenden Einzelfragen stellt. Ich bin ja
auch selbstverständlich gern bereit, dem Reichstag darüber
bei späteren Gelegenheiten noch genaueren Aufschluß zu
geben.
Von unmittelbarer Wichtigkeit sind jetzt die Folge-
rungen, die die neue Reichsleitung in der kurzen Zeit-
spanne ihres bisherigen Daseins praktisch aus der Lage,
die sie vorfand, und aus der Nutzanwendung ihrer politi-
schen Grundsätze auf diese Lage gezogen hat.
Mehr als vier Jahre des blutigsten Ringens gegen
eine Welt von zahlenmäßig überlegenen Feinden liegen (D)
hinter uns: Jahre voll schwerster Kämpfe und schmerz-
lichster Opfer. Ein jeder von uns trägt seine Narben,
nur allzuviele sogar noch offene Wunden — sei es im
verborgenen Grunde der Seele oder an seinem opferbereit
für die deutsche Freiheit auf dem Schlachtfelde preis-
gegebenen Körper.
Trotzdem aber sind wir starken Herzens und voll von
zuversichtlichem Glauben an unserer Kraft, entschlossen,
für unsere Ehre und Freiheit und für das Glück unserer
Nachkommen auch noch schwerere Opfer zu bringen, wenn
das unabänderlich ist. Mit tiefer, heißer Dankbarkeit
gedenken wir unserer tapferen Truppen, die unter
glänzender Führung während des ganzen Krieges fast
Ubermenschliches geleistet haben und deren bisherige
Taten sicher verbürgen, daß unser aller Schicksal bei
ihnen auch ferner in guten zuverlässigen Händen liegt.
(Bravol)
Im Westen tobt seit Monaten eine einzige furchtbare,
menschenmordende Schlacht. Dank dem unvergleichlichen
Heldentum unserer Armee, das als unvergängliches
Ruhmesblatt in der Geschschte des deutschen Volkes fort-
leben wird für alle Zeiten, ist die Front ungebrochen.
Dieses stolze Bewußtsein läßt uns mit Zuversicht in die
Zukunft sehen.
Gerade weil wir von dieser Gesinnung und Uberzeugung
beseelt sind, ist es aber auch unsere Pflicht, Gewißheit
darüber herbeizuführen, daß das opfervolle blutige Ringen
nicht einen einzigen Tag über den Zeitpunkt hinaus
geführt wird, wo uns ein Abschluß des Krieges möglich
erscheint, der unsere Ehre nicht berührt. Ich habe deshalb
auch nicht erst bis zum heutigen Tage gewartet, ehe ich
handelnd zur Förderung des Friedensgedankens eingriff.
Gestützt auf das Einverständnis aller dazu berufenen
Stellen im Reich und auf die Zustimmung der gemeinsam