Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band V. Das Staatsrecht des Großherzogtums Baden. (5)

§ 65 Der Begriff des Gesetzes nach badischem Recht. 209 
  
der gesetzgeberischen Akte begann erst mit dem Erlaß der Verfassung. 
Die Verfassungsurkunde selber enthielt sich zwar einer jeden Erläuterung 
des materiellen Gesetzesbegriffes. Sie setzte denselben indessen als bekannt voraus 
und bildete sich aus ihm, indem sie ihn zerteilte und ein formelles Element da- 
mit verband, einen neuen Gesetzesbegriff von engerem Umfang. 
Für die Zukunft sollten ihr als Gesetze nur gelten: Das Auflagegesetz 
(* 54), die Vorschriften, welche die Verfassungsurkunde ergänzen, erläutern oder 
abändern (§ 64) und „alle anderen, die Freiheit der Personen oder das Eigen- 
tum der Staatsangehörigen betreffenden allgemeinen neuen Landesgesetze" 
(§8 65). Die durch diese Bestimmungen zusammengefaßten Gesetze wurden in 
der Weise besonders hervorgehoben, daß sie künftighin nur in gewissen Formen zu- 
standekommen, und daß sie, auch wenn sie vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 
dem absoluten Herrscher allein erlassen worden waren, nur in der neu vorge- 
schriebenen Form wieder abgeändert oder aufgehoben werden konnten. 
Darüber, was alles zu den unter den § 65 fallenden allgemeinen Landes- 
gesetzen gehört, spricht sich die Verfassungsurkunde nicht näher aus. Nach dem 
Wortlaute und der Vorgeschichte des Paragraphen kann wohl kein Zweifel dar- 
über aufkommen, daß damit dasselbe gemeint war, was die herrschende Theorie 
des deutschen Staatsrechtes, allerdings nicht zutreffend, als Rechtssatz bezeichnet, 
d. h. jede Vorschrift, die sich mit einem Gebot oder Verbot an die Untertanen 
wendet. Damit stimmt auch die Auffassung der Praxis überein 1). 
Nicht mit einbezogen unter den neuen Gesetzesbegriff waren jedoch, abge- 
sehein von den in der Verfassungsurkunde enthaltenen, diejenigen Normen, welche 
1) Vgl. Wielandta. a. O. S. 164 Anm. 1, van Calker ,krit. Viert. J. Schr. 1904, S. 
120, Lewald, Zeitschrift 1905 S. 216, Dorner und Seng a. a. O. S. 11 f. Insbesondere 
wäre die Auslegung zurückzuweisen, die Thoma, Der Polizeibefehl nach bad. R. Bd. I S. 119 f. 
allerdings nur als eine vielleicht mögliche hinstellt, daß man dem Worte „Landesgesetz“ einen 
engeren Begriff von Gesetz, welcher nur das Zivil- und Kriminalrecht mit dem Prozeß umfaßte, 
zugrunde legen wollte. Bereits das LR. erwähnt in seinem Satz 3 ausdrücklich die Polizei= und 
Sicherheitsgesetze; das gleiche tut der zweite Entwurf der Verf. Urk. in seinem § 25 (Wecch a. a. 
O. S. 25), ebenso stellt der vierte Entwurf den bürgerlichen und peinlichen die „Verwaltungsgesetze, 
welche das Eigentum und die Freiheit zum Gegenstande haben" gegenüber (Weech S. 71), und der 
bei der zweiten Redaktion dieses Entwurfes gemachte Zusatz XI, welcher die Einführung eines Ver- 
waltungsstreitverfahrens anbahnte, spricht ebenfalls von „Administrativgesetzen“ (Weech S. 83). 
Vgl. auch das a. a. O. S. 89 ff. abgedruckte Gutachten des Frhn. v. Marschallbes. zu Art. 39 
dieses Entwurfes. Endlich räumt auch der auf eine Einschränkung der ständischen Rechte abzielende, 
bei Weech S. 126 ff. abgedruckte Aufsatz von C. S. Zachariä stillschweigend ein, daß der § 65 
der Verf. Urk. mehr umfasse wie das Zivil-Strafrecht, die Gerichtsordnung, Konskription, Regelung 
der Gemeindeverhältnisse und Organisation der Gerichte, a. a. O. S. 128 Ziff. 4. 
Eine Stütze findet die im Text vertretene Anschauung auch durch das gleichlautende Ergebnis, 
zu dem die von Seydel über den Inhalt des für Baden vorbildlichen § 2 des Titels VII der bayr. 
Verf. Urk. angestellten Untersuchungen geführt haben (v. Seydel, bayr. StR. II S. 316 ff.). 
Diese Untersuchungen bestätigen auch weiter, daß das im § 65 mitaufgenommene Beiwort „all- 
gemeine“ (d. h. Gesetze) nicht etwa eine Beschränkung bedeuten sollte, die solche Rechtsvorschriften, 
welche nur für bestimmte Personenklassen oder einzelne Landesteile Geltung beanspruchen, aus- 
schließen würde. Die ausdrückliche Anführung jenes Wortes wollte vielmehr nur ein wesentliches 
„Element"“ der materiellen Rechtsvorschrift, deren Verbindlichkeit für Jedermann, nochmals aus- 
drücklich hervorheben. Unter die allgemeinen Gesetze des § 65 fallen deshalb, was in dem II. Verf.= 
Entw. 7 26 besonders betont war, auch die sogen. Individualgesetze, wie die Erteilung eines Dispen- 
ses von bestehenden Gesetzesvorschriften (ugl. Weech a. a. O. S. 17). 
Ueber die Bedeutung des § 65 vgl. ferner Anschütz: Die gegenwärtigen Theorien usw., 
2. Aufl. 1901 S. 167 f. G. Meyer-Anschütz D. StR. §157 Anm. 5 und Hubrich Annal. 
d. D. Reichs 1904, S. 847 ff., Thoma in der Zeitschr. 1906 S. 81 und 93. 
Walz, Baden. 14 
 
	        
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