8 136 Verhältnis der Glaubensgesellschaften im Staate. Geschichtliche Uebersicht. 461
früheren Vorschriften in einer Art und Weise abgeändert wurde, die der Kirche eine
freiere Bewegung gestattete. Das landesherrliche Plazet wurde auf die Fälle be—
schränkt, die „nicht ganz in dem eigentümlichen Wirkungskreis der Kirche liegen“, so-
wie auf die „Erlasse, die in staatliche oder bürgerliche Verhältnisse eingreifen“. Für
die übrigen Erlasse begnügte man sich mit dem Verlangen einer bloßen Mitteilung.
Ebenso wurde bezüglich der Abhaltung der Provinzial= oder Diözesansynoden nur
die Mitteilung der Einberufung gefordert. Der Verkehr der Kirchenangehörigen mit
dem Kirchenoberhaupte wurde freigegeben. An den theologischen Fakultäten wurden
Anstalten für die gemeinsame Verpflegung und Erziehung der Zöglinge (Konvikte)
zugelassen, und die vor dem Eintritt in das Priesterseminar abzulegende Prüfung
wurde allein der bischöflichen Behörde übertragen. Das staatliche Interesse wahrte
ein zuzuziehender landesherrlicher Kommissär. Gleichzeitig gelangten die im Jahre
1810 eingerichteten landesherrlichen Dekanate wieder zur Aufhebung.
Das Verhältnis zwischen Regierung und Erzbischof gestaltete sich jedoch infolge
des Erlasses dieser Verordnung keineswegs besser, wie unter anderm die noch im
Monat November desselben Jahres durch VO. 1) ausgesprochene Verschärfung der
Vorschriften über das Plazet beweist. Die Regierung wandte sich deshalb im Jahre
1854 direkt an den päpstlichen Stuhl, mit dem sie sich zunächst über einen vorläufigen
Friedenszustand verständigte, und mit dem sie dann, vier Jahre später, unterm 28.
Juni 1859 „zur Regelung der Angelegenheiten der katholischen Kirche in Baden“
eine förmliche „Vereinbarung“ abschloß, „unter Vorbehalt der ständischen Zustimmung
zur Veränderung der der Vereinbarung entgegenstehenden Gesetzesbestimmungen“.
Die Vereinbarung, die in eine mit den Worten: Aeterni pastoris vicaria beginnende
Bulle vom 21. September 1859 aufgenommen war, wurde mit landesherrlicher VO.
vom 5. Dezember zur Nachachtung verkündet 2), nachdem sie kurz vorher den Ständen
zur Kenntnisnahme vorgelegt worden. Wie bekannt, hat sich die damalige zweite
Kammer mit einer bloßen Kenntnisnahme nicht begnügt, vielmehr ganz allgemein
ein ständisches Zustimmungsrecht behauptet und gestützt hierauf dem Landesherrn die
Bitte vorgetragen, der geschlossenen Vereinbarung die Rechtsverbindlichkeit ab-
zusprechen. Bestimmt wurde die Kammer zu ihrer ablehnenden Stellung durch die
ihrer Ansicht nach in dem Konkordate enthaltenen viel zu weit gehenden Konzessionen
des Staates, die sie mit dem Staatswohle nicht mehr für vereinbar hielt. Auch schien
es ihr richtiger, die Rechtsstellung der Kirche, deren Freiheit und Selbständigkeit an
und für sich nicht in Frage gestellt werden sollte, im Wege der einseitigen staatlichen
Normierung durch ein Gesetz festzulegen und nicht durch völkerrechtlichen Vertrag 35).
Der Erfolg der von der zweiten Kammer mit 45 gegen 15 Stimmen beschlossenen
Adresse war der am 2. April 1860 eingetretene Systemwechsel und die Vorlage einer
Reihe von Gesetzesentwürfen, die nach einigen weniger bedeutenden Aenderungen
die Zustimmung der beiden Kammern und unterm 9. Oktober gemeinschaftlich die
Sanktion des Landesherrn erhielten. Ihr Inhalt bildet heute noch die Grundlage
des in Baden geltenden Staatskirchenrechtes 4).
Das erste aus jenen Entwürfen hervorgegangene Gesetz (abgedruckt Reg. Bl.
S. 375 ff.) bestimmte die rechtliche Stellung der Kirchen und der kirchlichen Vereine
im Staat; das zweite (abgedruckt: S. 378) setzte die Fürsten von Fürstenberg und
von Leiningen wieder in den Besitz der von ihnen im Jahre 1849 aufgegebenen Patronats-
rechte; das dritte (abgedruckt S. 379) sah für Ausnahmsfälle eine bürgerliche Standes-
beamtung vor; das vierte (abgedruckt S. 380) regelte die Ausübung der Erziehungs-
1) Ldh. VO. v. 7. Nov. 1853. Reg. Bl. S. 388.
2) Reg. Bl. S. 441.
3) Von den Einzelbestimmungen des Konkordates wurden vor allem diejenigen angegriffen,
die den Eid des Erzbischofes, dessen Judikatur in Ehesachen, die Befugnis zur Errichtung von Jüng-
lings= und Knabenseminarien, den weitgehenden Einfluß auf die Schulverwaltung insbesondere
auch das konfessionelle Schulvermögen, die Stellung der Kirche gegenüber den Patronatsrechten
und die Behandlung der geistlichen Orden usw. betrafen. Vgl. den Komm.Bericht der II. K. Ldtg.
1859/60 6. Beil. H. S. 79—125.
4) Ueber die parlamentarische Behandlung der Entwürfe vgl. vor allem die Materialien der
II. K. Ldtg. 1859/60 4. Beil. H. S. 416—486 und 6. Beil. H. S. 257—326 und der l. K. Prot. H.
S. 132—176; Beil. H. S. 434—489.