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der merklichsten Kulturrückständigkeiten bezeichnet werden, daß noch im
20. Jahrhundert der Fremde in einem Staate so gut wie rechtlos ist und sich
auf das Belieben des Staates, in dem er sich aufhält, angewiesen sieht. Es
würde ein Friedenswerk ersten Ranges bedeuten, wenn es gelänge, in dem
Friedensvertrag wenigstens die Grundlagen eines neuen Fremdenrechtes zu
vereinbaren.
Abgesehen von solchen, durch Vereinbarung mit unseren Gegnern zu
treffenden Maßnahmen kann das Deutsche Reich die Kriegsschäden der im
Ausland angelegten deutschen Werte und der dort tätigen Kräfte durch selb-
ständige Maßnahmen ausgleichen, indem es bessere Bedingungen schafft, als
sie bisher bestanden haben. Das betrifft hauptsächlich zwei Fragen: die Rege-
lung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse und die Vertretung des Deutschen
Reiches im Ausland.
In dem Abschnitt über die ehemaligen Deutschen ist dargelegt worden,
welchen Schaden eine des Weitblicks entbehrende Einbürgerungs-
politik in all den vergangenen Jahren angerichtet hat. Ein großer Teil
des Auslandsdeutschtums hat durch diese Einbürgerungspolitik, man möchte
sagen, die Reichsfreudigkeit fast verloren. Durch den Krieg ist alles ver-
wischt, was gewesen ist; allenthalben hat sich die Liebe zu dem Lande der
Väter geltend gemacht, und allenthalben besteht der frohe Wille, in Zukunft
treu zum Reich zu halten. Kein Augenblick als der jetzige ist günstiger,
begangene Fehler gut zu machen. Wenn nach Friedensschluß das Reich in
großzügiger Weise die Möglichkeiten ausnutzt, die das neue Staatsbürger-
gesetz vom 22. Juli 1913 ihm in die Hand gegeben hat, wenn es auch den ver-
lorenen Sohn in dieser Zeit einer großen Erhebung großmütig wieder in
seinen Schutz aufnimmt, dann erfüllt es nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit,
sondern verschafft sich auch einen Zuwachs an Macht und Freundschaft in der
ganzen Welt.
Und nicht minder wichtig ist die viel erörterte Frage der Vertretung
des Reiches im Ausland. Man soll offen eingestehen, daß uns —
von Ausnahmen abgesehen — noch eine Diplomatie und ein Konsulats-
wesen fehlt, wie eine Weltmacht sie haben muß. Aber man soll an diese
Einsicht keine Entrüstung und keine Vorwürfe knüpfen. Es genügt, wenn
man aus ihr den festen Willen schöpft, es in Zukunft besser zu machen. Be-
denke man doch, daß wir staatlich das jüngste Volk der Welt sind, und daß
wir als Reich überhaupt erst seit noch nicht fünf Jahrzehnten selbständig da-
stehen. In so kurzer Zeit kann kaum schon etwas Vollendetes geschaffen
werden. Wir wollen über vergangene Fehler nicht mehr schelten. Genug,
wenn wir an ihnen lernen.
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