Full text: Der Weltkrieg 1914. Band 1. (1)

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Reichshauptstadt, sondern ganz Deutschland bietet, und ich darf sagen: Sie 
blicken auf ein großes Volk. Auch derjenige Deutsche, dem der Alltags- 
kampf der Meinungen und Parteien hier und da den unvergänglichen Kern 
deutschen Wesens verhüllte, den manche Vorgänge der letzten Jahre mit 
Sorge auf unsere Entwicklung blicken ließen, kann angesichts der Haltung 
des deutschen Volkes in diesem Riesenkampf nur schweigend sein Haupt 
neigen vor der Größe der Nation ... Nicht nur in Deutschland hat der 
Krieg erhebend gewirkt, auch über Oesterreich-Ungarn ist er wie ein 
reinigendes Gewitter hingegangen. Welches Zerrbild haben vor dem 
Kriege englische und französische Politiker und Publizisten von dem infolge 
der Nationalitätenkämpfe angeblich auseinanderfallenden habsburgischen 
Reiche entworfen. Wie hat der Gang der Ereignisse diese Prophezeiung 
Lügen gestraft. Fürst Bismarck hat recht behalten, der sagte, daß, wenn 
Kaiser und König Franz Josef zu Pferde stiege, ihm alle seine Völker 
folgen würden. Wenn auch der Tscheche am Deuischen, dieser am Slowenen, 
der Rumäne am Ungarn und der Ruthene am Polen dieses oder jenes aus- 
zusetzen haben mag, so ziehen sie doch alle trotz gelegentlicher Reibungen in 
der Prager oder Laibacher, Agramer oder Lemberger Landtagsstube das 
weitere Zusammenleben mit dem alten Zeitgenossen bei weitem der ruf- 
sischen Knute vor. Alle Völker der alten Donaumonarchie, die nach einem 
bekannten Wort erfunden werden müßte, wenn sie nicht existierte, haben 
das gleiche Interesse an dem Fortbestand des habsburgischen Reiches.“ 
Ueber Italiens Haltung sagte Fürst Bülow: Ich glaube, daß das 
italienische Volk den schwersten Fehler seiner Geschichte begehen würde, 
wenn es sich durch englische, französische und russische Einflüsterungen und 
Hetzereien verleiten ließe, eine feindliche Haltung gegenüber Oesterreich- 
Ungarn einzunehmen. Ich weiß wohl, was zwischen Italien und Oester- 
reich steht: Die Erinnerung an langjährige und erbitterte Kämpfe, die 
lebhafte Teilnahme des italienischen Volkes an dem Ergehen seiner 
Stammezsgenossen in Oesterreich. Ich kenne auch die Fäden, die Italien 
mit Frankreich verbinden, den Einfluß, den England seit jeher in Italien 
ausgeübt hat, nicht nur durch seine Flotte, vor deren Kanonen die italie- 
nischen Seestädte liegen, sondern auch durch die Erinnerung an die eng- 
lischen Sympathien für die italienische Freiheitsbewegung, an das Assyl, 
welches italienische Freiheitskämpfer in England gefunden haben, ich kenne 
die Vorliebe vieler Italiener für englische Institutionen, die ihnen Vorbild 
gewesen sind. Aber das sind Gefühle und Erwägungen, die nicht den Kern 
der Sache treffen. Und dieser ist, daß ebensosehr wie das Schicksal Oester- 
reichs, die Zukunft Italiens von dem Siege unserer Waffen abhängt. 
Zwischen dem Werdegang und den Lebensbedingungen des italienischen 
Volkes und unserer deutschen Entwicklung besteht eine GEleichartigkeit, die 
nicht nur äußerlicher Natur ist. Beide Völker haben später als andere, 
viel später als Engländer, Franzosen, Spanier ihre Einigkeit erlangt. 
Woran lag das? An dem Uebergewicht Frankreichs, das auf der Zer- 
splitterung Italiens und Deutschlands beruhte. Der klügste französische 
Politiker, Adolphe Thiers, wußte, was er tat, als er die italienischen wie 
die deutschen Einheitsbestrebungen mit solcher Erbitterung bekämpfte, denn 
er sah voraus, daß sie die „Préponderance legitime de la France“, 
wie die Franzosen es nannten, die von Richelieu bis zu Napoleon III. 
von Frankreich ausgeübte Hegemonie, gefährdeten. Dem Genie zweier 
großer Staatsmännmer, Bismarck und Cavour, ist es gelungen, durch ihre 
 
	        
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