— 310 —
ohne daß es möglich gewesen wäre üglich der Absichten der Kaiser-
* C Ffischen #igrwersen — ln Fhechschten. zu unter-
scheiden. Uebestreitbar bleibt nur, daß Deutschland sich hier ebenso sehr
wie in Wien bemüht hat, irgendein Mittel zu finden, um einen allge-
meinen Konflikt zu vermeiden, daß es dabei aber einerseits auf die feste
Entschlossenheit des Wiener Kabinetts gestoßen ist, keinen Schritt zurück-
zuweichen, und andererseits auf das Mißtrauen des Petersburger Kabi-
netts gegenüber den Versicherungen Oesterreich-Ungarns, daß es nur an
eine Bestrafung, nicht an eine Besitzergreifung Serbiens denke.
Herr Ssasonow hat erklärt, daß es für Rußland unmöglich sei, sich
nicht bereit zu halten und nicht zu mobilisieren, daß aber diese Vorberei-
tungen nicht gegen Deutschland gerichtet seien. Heute morgen kündet ein
offizielles Communiqué an die Zeitungen an, daß „die Reservisten in
einer bestimmten Anzahl von Gouvernements zu den Fahnen gerufen
sind“. Wer die Zurückhaltung der offiziellen russischen Communiqués
kennt, kann ruhig behaupten, daß überall mobil gemacht wird.
Der deutsche Botschafter hat heute morgen erklärt, daß er am Ende
seiner seit Sonnabend ununterbrochen fortgesetzten Ausgleichsbemühungen
angelangt sei und daß er kaum noch Hoffnung habe. Wie mir eben mit-
geteilt wird, hat sich auch der englische Botschafter im gleichen Sinne aus-
gesprochen. England hat letzthin einen Schiedsspruch vorgeschlagen. Herr
Ssasonow antwortete: „Wir selbst haben ihn Oesterreich-Ungarn vorge-
schlagen, es hat den Vorschlag aber zurückgewiesen.“ Auf den Vorschlag
einer Konferenz hat Deutschland mit dem Vorschlage einer Verständig ung
zwischen den Kabinetten geantwortet. Man möchte sich wahrhaftig fragen,
ob nicht alle Welt den Krieg wünscht und nur versucht, die Kriegserklärung
noch etwas hinauszuschieben, um Zeit zu gewminnen.
England gab anfänglich zu verstehen, daß es sich nicht in einen
Konflikr hineinziehen lassen wolle. Sir George Buchanan sprach das
offen aus. Heute aber ist man in St. Petersburg fest davon überzeugt,
ja man hat sogar die Zusicherung, daß England Frankreich beistehen
wird. Dieser Beistand fällt ganz außerordentlich ins Gewicht und hat
nicht wenig dazu beigetragen, der Kriegspartei Oberwasser zu verschaffen.
Die russische Regierung hat in den letzten Tagen allen serben-freund-
lichen und österreichisch-feindlichen Kundgebungen freien Lauf gelassen und
hat in keiner Weise versucht, sie zu ersticken. In dem Ministerrate, der
gestern früh stattfand, machten sich noch Meinungsverschiedenheiten geltend;
die Bekanntgabe der Mobilisierung wurde verschoben, aber seitdem ist ein
Umschwung eingetreten, die Kriegspartei hat die Oberhand gewonnen
und heute früh um 4 Uhr wurde die Mobilmachung bekannt gegeben.
Die Armee, die sich stark fühlt, ist voller Begeisterung und gründet
große Hoffnungen auf die außerordentlichen Fortschritte, die seit dem japa-
nischen Kriege gemacht worden sind. Die Marine ist von der Verwirk-
lichung ihres Erneuerungs= und Reorganisationsplanes noch so weit ent-
fernt, daß mit ihr wirklich kaum zu rechnen ist. Darin eben liegt der
Grund, warum die Zusicherung des englischen Beistandes eine so große
Bedeutung gewann.
Wie ich die Ehre hatte Ihnen heute zu telegraphieren (T. 10), scheint
jegliche Hoffnung auf eine friedliche Lösung dahin zu sein. Das ist die
Ansicht der diplomatischen Kreise.