Full text: Der Weltkrieg 1914. Band 1. (1)

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zwischen Rußland und Oesterreich wohl noch zu einer Einigung über 
Serbien gekommen wäre, wenn nicht Deutschland sich und seinen Gegen- 
satz zu Rußland so stark vorgedrängt hätte, daß der Krieg das Ende 
aller Verhandlungen sein mußte. Das englische Weißbuch liegt nunmehr 
vor, und wir geben im folgenden den wesentlichsten Inhalt des Bunsen- 
schen Berichtes an Herrn Grey wieder. Sir Maurice berichtet: 
Der Ueberreichung der österreichisch-ungarischen Note an Serbien am 
23. Juli in Belgrad war eine Zeit der völligen Ruhe auf dem Ballplatz 
vorangegangen. Außer Herrn v. Tschirschky, der von dem Inhalt, wenn 
nicht von dem Wortlaute der Note selbst Kenntnis gehabt haben muß, war 
es keinem meiner Kollegen gegönnt, den Schleier zu durchschaen 
So wenig hatte der russische Botschafter Kenntnis von dem, was im Gange 
war, daß er Wien zu vierzehntägigem Urlaub tatsächlich verließ. Er war 
erst einige Tage abwesend, als die Ereignisse ihn zur Rückkehr nötigten. 
Man hätte annehmen können, daß der Herzog von Avarna, der Botschafter 
des verbündeten italienischen Königreichs, das durch neue Verwicklungen 
auf dem Balkan so nahe mitbetroffen werden würde, mit in das volle Ver- 
trauen des Grafen Berchtold während dieser kritischen Zeit gezogen worden 
sei. e Wirklichkeit war Seine Exzellenz vollständig im Dunkeln gehalten 
worden 
Am 24. Juli wurde die Note in den Zeitungen veröffentlicht. Mit 
allgemeinem Einverständnis wurde sie alsbald als ein Ultimatum ver- 
zeichnet: Daß Serbien sie im ganzen annehmen würde, wurde weder er- 
wartet, noch war es erwünscht, und als am Nachmittag darauf in Wien 
zunächst das Gerücht umlief, daß sie bedingungslos angenommen worden sei, 
herrschte einen Augenblick eine lebhafte Enttäuschung. Der Fehler war 
bald richtiggestellt; als es später am Nachmittag bekannt war, daß die 
serbische Antwort zurückgewiesen worden sei, und daß Baron Giesl die Be- 
ziehungen in Belgrad abgebrochen habe, brach in Wien eine leidenschaftliche 
Freude aus. Große Volksmengen bewegten sich auf den Straßen und 
sangen patriotische Lieder bis in die ersten Morgenstunden Ein 
oder zwei Versuche der Veranstaltungen feindlicher Kundgebungen gegen 
die russische Botschaft wurden durch die starke Polizeiwache vereitelt, welche 
die Zugänge zu den wichtigsten Botschaften besetzt hielt. Das Verhalten der 
Bevölkerung Wiens und, wie ich erfuhr, der meisten andern größeren Städte 
der Monarchie stellte deutlich die Volkstümlichkeit des Gedankens an einen 
Krieg mit Serbien dar. Und es kann kein Zweifel darüber obwalten, daß 
die kleine Gruppe der österreichischen und ungarischen Staatsmänner, die 
diesen folgenschweren Schritt beschlossen, die Stimmung, und man kann so- 
gar sagen, den Willen des Volkes richtig erfaßt hatten, außer vermutlich den 
Teilen der von den slawischen Rassen bewohnten Provinzen 
Das gesamte Volk 
und die Presse heischten mit Ungeduld die sofortige und angemessene Strafe 
der verhaßten serbischen Rasse. Im Lande glaubte man bestimmt, daß 
man nur vor der Wahl gestanden habe, Serbien zu unterwerfen oder 
früher oder später von ihm verstümmelt zu werden.. Die Sache 
Oesterreich-Ungarns galt für so gerecht, daß es dem Volke unbegreiflich 
schien, es könnte ein anderer Staat sich ihm in den Weg stellen, oder es 
würden anderswo Fragen rein politischer Art oder Fragen des Ansehens 
als wichtiger betrachtet werden, wenn die Notwendigkeit, die sich ergeben
	        
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