Full text: Der Weltkrieg 1914. Band 1. (1)

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schritte erzielte und — wie anzunehmen ist — nahe daran ist, das ihr ge- 
steckte Ziel zu erreichen. (Voss. Ztg., 23. Sept.) 
Ein Engländer gegen die Mär von den deutschen Grausamkeiten. 
Gegen die angeblichen Greueltaten der Deutschen wendet sich der be- 
kannte Schriftsteller H. N. Brailsford in folgendem an den Herausgeber der 
„Daily News“ gerichteten offenen Briefe: 
„Wollen Sie einem Journalisten, der eine lange Erfahrung in „Bal- 
kangrausamkeiten“ gehabt hat, gestatten, gegen die Geschichten Protest zu er- 
heben, die jetzt die englische Presse überfluten?“" So beginnt das Schreiben, 
das wir im Wortlaut mitteilen. „Ich habe in Berlin gelebt, und obwohl ich 
mit einem ziemlich eingewurzelten Mißfallen gegen den preußischen Geist 
und noch mehr gegen preußische Manieren zurückkomme, so weigere ich mich 
doch entschieden, manche dieser Geschichten zu glauben, bis nicht ein Gerichts- 
hof neutraler Richter sie für wahr befunden hat, nachdem er beide Seiten 
angehört hat. Eine Verstümmelungsgeschichte wird von einem ungenann- 
ten englischen Offizier erzählt, der sagt, er habe diese unbegreifliche Grau- 
samkeit mit seinen eigenen Augen in einer Entfernung von 300 Meter ge- 
sehen und daraufhin den schuldigen Deutschen niedergeschossen. Der Vor- 
gang ereignete sich in den Schützengräben während eines heißen Kampfes, 
der den ganzen Tag gedauert hatte. Nun könnte man ja vielleicht glauben, 
daß Deutsche so etwas tun in voller Sicherheit nach einem Sieg, aber wer 
sagt, daß ein Offizier die Muße finden kann, zuerst einem Mädchen Gewalt 
anzutun und es dann zu verstümmeln, mitten im Feuer, in der Hitze der 
Schlacht, 300 Meter von der feindlichen Front, der behauptet etwas, was 
einfach unmöglich ist. 
Vor zwei Monaten würde jeder englische Redakteur, dem man zu- 
gemutet hätte, eine Geschichte von Deutschen zu bringen, die kleine Kinder 
auf ihre Bajonette aufspießen, den Erzähler erst auf seinen Geisteszustand 
haben untersuchen lassen. Unser Glauben von vor zwei Monaten, nachdem 
die Deutschen zivilisierte moderne Menschen waren, vielleicht mit etwas 
schlechteren Manieren, aber mit einer viel besseren Erziehung als wir selbst, 
beruhte auf klareren und nüchterneren Beobachtungen, als die gegenwärtige 
Ansicht, daß sie den Dänen des 9. oder den Kurden des 19. Jahrhunderts 
ähneln. Der Leser mag einwenden, daß die Niederbrennung von Löwen 
und Aerschot unzweifelhafte Tatsachen sind. Ich bitte aber den Leser sich 
zu erinnern, daß wir selbst unter dem Zwang einer scheinbaren militärischen 
Notwendigkeit jedes Bauerngehöft und viele Städte in Transvaal und im 
Freistaat niedergebrannt haben. Nach meiner Ansicht beweisen solche harten 
Maßnahmen nicht so viel für die besondere und ungewöhnliche Wildheit der 
Deutschen als für die Grausamkeit des Krieges überhaupt. 
Solche Geschichten, die unter dem einfachen Volke nun Tag für Tag die 
Runde machen, werden ihre ernsten Folgen haben. Sie werden in unserm 
Heer und in den Heeren unserer Verbündeten den Geist nähren, der Wieder- 
vergeltung fordert, und die Massen zu Hause werden sie glauben machen, 
dieser Feldzug sei ein Rachekrieg. Am Ende des zweiten Balkankrieges 
prägten die griechischen Zeitungen gerade durch eine solche Methode der 
Schmähung und Herabsetzung den Griechen die Lehre ein, daß die Bulgaren 
„keine Menschen wären“. Der Erfolg war, daß die griechischen Soldaten 
die bulgarische Bevölkerung, die nicht kämpfte, wie schädliches Ungeziefer
	        
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