— 37 —
Das deutsche Weißbuch.
Die nachstehende vorläufige Denkschrift nebst Aktenstücken zum
Kriegsausbruch ist heute dem Reichstag zugegangen. (4. August.)
Am 28. Juni d. J. ist der österreichisch = ungarische Thronfolger
Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von
Hohenberg, durch Revolverschüsse des Mitglieds einer serbischen Ver-
schwörerbande niedergestreckt worden. Die Untersuchung des Verbrechens
durch die österreichisch-ungarischen Behörden hat ergeben, daß das Kom-
plott gegen das Leben des Erzherzog-Thronfolgers in Belgrad unter
Mitwirkung amtlicher serbischer Personen vorbereitet und gefördert, mit
Waffen aus den staatlichen serbischen Depots ausgeführt wurde. Dies
Verbrechen mußte der ganzen zivilisierten Welt die Augen öffnen, nicht
nur über die gegen den Bestand und die Integrität der österreichisch-
ungarischen Monarchie gerichteten Ziele der serbischen Politik, sondern
auch über die verbrecherischen Mittel, die die großserbische Propaganda
in Serbien zur Erreichung dieser Ziele anzuwenden sich nicht scheute.
Das Endziel dieser Politik war die allmähliche Revolutionierung und
schließliche Lostrennung der südöstlichen Gebietsteile der österreichisch-
ungarischen Monarchie und ihre Vereinigung mit Serbien. An dieser
Richtung der serbischen Politik haben die wiederholten und feierlichen
Erklärungen, in denen Serbien Oesterreich-Ungarn gegenüber die Ab-
kehr von dieser Politik und die Pflege guter nachbarlicher Beziehungen
gelobt hat, nicht das geringste geändert. Zum dritten Male im Laufe
der letzten sechs Jahre führt Serbien auf diese Weise Europa an den
Rand eines Weltkrieges. Es konnte dies nur tun, weil es sich bei seinen
Bestrebungen durch Rußland gestützt glaubte. Die russische Politik war
bald nach den durch die türkische Revolution herbeigeführten Ereignissen
des Jahres 1908 daran gegangen, einen gegen den Bestand der Türkei
gerichteten Bund der Balkanstaaten unter seinem Patronat zu be-
gründen. Dieser Balkanbund, dem es im Jahre 1911 gelang, die Türkei
siegreich aus dem größten Teil ihrer europäischen Besitzungen zu ver-
drängen, brach über der Frage der Beuteverteilung in sich zusammen.
Die russische Politik ließ sich durch diesen Mißerfolg nicht abschrecken. In
der Idee der russischen Staatsmänner sollte ein neuer Balkanbund unter
russischem Patronat entstehen, dessen Spitze sich nicht mehr gegen die
aus dem Balkan verdrängte Türkei, sondern gegen den Bestand der
österreichisch-ungarischen Monarchie richtete. Die Idee war, daß Serbien
gegen die auf Kosten der Donaumonarchie gehende Einverleibung Bos-
niens und der Herzegowina die im letzten Balkankriege erworbenen
Teile Mazedoniens an Bulgarien abtreten sollte. Zu diesem Behufe
sollte Bulgarien durch Isolierung mürbe gemacht, Rumänien durch
eine mit Hilfe Frankreichs unternommene Propaganda an Rußland ge-
kettet, Serbien auf Bosnien und die Herzegowina gewiesen werden.
Unter diesen Umständen mußte Oesterreich sich sagen, daß es weder
mit der Würde noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar
wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen.
Die K. und K. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung und
erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundes-
genossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben
und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um
3