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Spione, und natürlich findet man auch, was man sucht: Kundschafter in
französischer Verkleidung und im Mönchsgewande. Einige werden er-
schossen — als Opfer der schon jetzt beginnenden Nervosität. Von vorn-
herein erkennen wir in den Franzosen, die der Verfasser schildert, die alten
Bekannten von Anno 70 wieder: Erregbare Naturen, leicht begeistert durch
unverbürgte Siegesmeldungen, mit denen man ihren Hunger nach auf-
munternden Neuigkeiten stillt, aber ebenso leicht der Entmutigung anheim-
fallend, wenn die vielfältigen Mühsale des Krieges auf die Stimmung
drücken. Noch ebenso schnell wie vor vierundvierzig Jahren ist man mit
zersetzender Kritik an den Mahnahmen der Führer bei der Hand, sobald
Strapazen kommen, deren Notwendigkeit man nicht ohne weiterse begreift.
Und der alte Ruf: „Wir sind verraten!“ ist heute noch wie einst das
Schlagwort der des inneren Halts beraubten Masse, die den Weg zu einem
billigen Siege versperrt sieht und sich nun poller Entrüstung rückwärts
wendet gegen jene, von denen sie sich ins Verderben geführt glaubt.
Am 21. August überschreitet das 11. Armeekorps die belgische Grenze.
Zur Schilderung der darauf folgenden Ereignisse lassen wir dem Verfasser
selbst das Wort.
Samstag, 22. August. Abmarsch um 4 Uhr. Wir marschieren nach
Paliseul (an der Heerstraße, die nordöstlich von Sedan über die belgische
Grenze führt, und fast direkt westlich von Neuschateau). Heute ist der große
Tag. Wir vernehmen schon bald Kanonendonner. Je weiter wir mar-
schieren, um so deutlicher hören wir die Musik der Geschütze. Es ist hier
übrigens ein Fehler gemacht worden: Man hätte uns schon am Vorabend
näher an das Schlachtfeld heranführen müssen. In Paliseul kommen wir
halb tot vor Hunger und reichlich müde an; mit außerordentlicher Be-
geisterung werden wir empfangen, die Einwohner bringen alle ihre Lebens-
mittel, um unseren Hunger zu stillen. Am Nachmittag gehen die Deutschen
gegen Maissin zurück. Wir glauben, dies sei der Sieg! Dagegen scheinen
sie einen Gegenschlag zu führen, denn die Verwundeten strömen in großer
Anzahl zurück. Plötzlich, gegen 6 Uhr, sehen wir Artillerie und Kavallerie
zurückgehen. Was geht vor? fragt sich jeder. Dann kommt der Befehl
zur Räumung der Stellung und zum Rückzug. Was nun kam, ist fürchter-
lich. Sämtliche Kolonnen des ganzen Armeekorps, Truppen aller Waffen-
gattungen vom Korps, alles strömte auf derselben Straße ab, ohne Ordnung,
ohne zu wissen wohin, noch warum. Alle sind wie vor den Kopf ge-
schlagen und können nicht begreifen, wie dies möglich ist. Unglücksbot-
schaften schwirren herum: Ganze Infanterie-Regimenter seien buchstäblich
aufgerieben — das wäre die vollständige Vernichtung des 11. Korps —,
und man spricht ebenfalls von der Flucht der neben uns kämpfenden Nach-
barkorps. Unsere arme, verlassene Pionier-Kompagnie erhält den Befehl,
den „Rückzug“ zu decken.
In aller Eile, mitten in der Nacht, bei eisig kaltem Nebelwetter,
heben wir Stellungen, Schützengräben aus. Aber sie werden bald wieder
aufgegeben. Es gibt keine Ordnung und Disziplin mehr. Die Generale,
Stabsoffiziere sind vollständig kopflos, sie haben nichts vorgesehen. — Wir
verbringen die Nacht, ohne ein Auge schließen zu können, mit dem GCe-
danken, daß wir jeden Augenblick geopfert werden können. Dies ist wirklich
eine Nacht, an die ich mein ganzes Leben denken werde. Man fühlt den
Zusammenbruch. Es ist beinahe ein „Rette sich wer kann!"“