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Anlage 2.
Der Reichskanzler an die Bundesregierungen.
Vertraulichl Berlin, den 28. Juli 1914.
Euer pp. wollen der Regierung, bei der Sie beglaubigt sind, folgende
Mitteilung machen:
Angesichts der Tatsachen, die die Oesterreichisch-Ungarische Regierung
in ihrer Note an die Serbische Regierung bekanntgegeben hat, müssen
die letzten Zweifel darüber schwinden, daß das Attentat, dem der öster-
reichisch-ungarische Thronfolger und seine Gemahlin zum Opfer gefallen
sind, in Serbien zum mindesten mit der Konnivenz von Angehörigen der
Serbischen Regierung und Armee vorbereitet worden ist. Es ist ein Pro-
dukt der großserbischen Bestrebungen, die seit einer Reihe von Jahren
eine Quelle dauernder Beunruhigungen für die Oesterreichisch-Ungarische
Monarchie und für ganz Europa geworden sind.
In besonders markanter Form trat der großserbische Chauvinismus
während der bosnischen Krisis in die Erscheinung. Nur der weitgehenden
Selbstbeherrschung und Mäßigung der Oesterreichisch-Ungarischen Regie-
rung und dem energischen Einschreiten der Großmächte war es zuzu-
schreiben, wenn die Provokationen, welchen Oesterreich-Ungarn in dieser
Zeit von seiten Serbiens ausgesetzt war, nicht zum Konflikte führten.
Die Zusicherung künftigen Wohlverhaltens, die die serbische Regierung
damals gegeben hat, hat sie nicht eingehalten. Unter den Augen, zum
mindesten unter stillschweigender Duldung des amtlichen Serbiens hat
die großserbische Propaganda inzwischen fortgesetzt an Ausdehnung und
Intensität zugenommen. Es würde weder mit der Würde noch mit ihrem
Recht auf Selbsterhaltung vereinbar sein, wollte die Oesterreichisch-
Ungarische Regierung dem Treiben jenseits der Grenze noch länger
tatenlos zusehen, durch das die Sicherheit und die Integrität ihrer Ge-
biete dauernd bedroht wird. Bei dieser Sachlage müssen das Vorgehen
sowie die Forderungen der österreichisch-ungarischen Regierung als ge-
rechtfertigt angesehen werden. „
Die Antwort der serbischen Regierung auf die Forderungen, welche
die Oesterreichisch-Ungarische Regierung am 23. d. M. durch ihren Ver-
treter in Belgrad hat stellen lassen, läßt indessen erkennen, daß die maß-
gebenden Faktoren in Serbien nicht gesonnen sind, ihre bisherige Politik
und agitatorische Tätigkeit aufzugeben. Der Oesterreichisch-Ungarischen
Regierung wird demnach, will sie nicht auf ihre Stellung als Großmacht
endgültig Verzicht leisten, nichts anderes übrig bleiben, als ihre Forde-
rungen durch einen starken Druck und nötigenfalls unter der Ergreifung
militärischer Maßnahmen durchzusetzen.
Einzelne russische Stimmen betrachten es als selbstverständliches
Recht und als die Aufgabe Rußlands, in dem Konflikt zwischen Oester-
reich-Ungarn und Serbien aktiv für Serbien Partei zu ergreifen. Für
die aus einem solchen Schritte Rußlands resultierende europäische Kon-
flagration glaubt die „Nowoje Wremja“ sogar Deutschland verantwort-
lich machen zu dürfen, sofern es nicht Oesterreich-Ungarn zum Nachgeben
veranlaßt. Die russische Presse stellt hiermit die Verhältnisse auf den
Kopf. Nicht Oesterreich-Ungarn hat den Konflikt mit Serbien hervor-
gerufen, sondern Serbien ist es gewesen, das durch eine skrupellose Be-