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Der Bundesrat in seiner heutigen Gestalt wird bisweilen
als „die eigentümlichste Institution des Deutschen Reiches“ 1),
als „eine ganz eigentümlich kühne Schöpfung der Reichsver-
fassung“ 2) bezeichnet. Keine andere staatsrechtliche Institution
läßt sich aber leichter aus der Eigenart und der Entwicklung der
deutschen Staatsverhältnisse erklären als der Bundesrats).
Oit Recht bezeichnet ihn Schulzet) als eine „Jortsetzung
des ehemaligen Bundestages" mit dem Anterschiede, daß er dort
das Organ einer Gesamtheit mehrerer souveräner Staaten war,
hier aber das Organ eines einheitlichen Staatswillens ist.
Noch größere Ahnlichkeit zeigt aber der Bundesrat mit dem
ehemaligen deutschen Reichstag. Er ist ein Kollegium der Be-
vollmächtigten der deutschen Landesherren, die, wie ehedem im
Reichstag, nach den ihnen erteilten Instruktionen, nicht nach
freier Aberzeugung ihre Stimmen abgeben. Nicht zu ver-
gleichen ist der Bundesrat mit einer entsprechenden Einrichtung
der Verfassungen der beiden demokratischen Bundesstaaten: der
Ständerat der schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai
1874, wie auch der Senat der amerikanischen Bundesverfassung
sind parlamentarische Körperschaften, die an Instruktionen ihrer
QMachtgeber nicht gebunden sind. Der heutige Bundesrat ist
kein Darlament, man kann ihn daher auch nicht als ein Ober-
haus oder eine erste Kammer bezeichnenz er steht als ein
unverantwortliches Organ der Reichsgewalt 5) dem Kaiser und
dem Reichstag gegenüber. Ebenso wenig läßt der Bundesrat
seinem Begriff und seinem juristischen Wesen nach einen Ver-
gleich mit einem Ministerium zu; denn er wird nicht vom Kaiser
ernannt und empfängt keine Befehle von ihm, auch sind seine
Mitglieder keine Reichsbeamten, die die Regierungsgeschäfte
im Namen und Auftrage des Kaisers zu führen haben 8).
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1) Laband, Staatsrecht, Bd. 1 S. 233.
2) v. Mohl, a. a. O. S. 228.
3) Laband, Staatsrecht, Bd. 1 S. 233.
4) A. a. O. Bd. II S. 47.
5) So Schulze, a. a. O. Bd. II S. 48.
6) Laband, Staatsrecht, Bd. 1 S. 236.