Full text: Erinnerungen an die Kriegsjahre im Königlich Preußischen Kriegsministerium. Erster Band. Der Weg zur Revolution 1914-1918. (1)

94 Neuntes Kapitel 
seelischen Verfassung des deutschen Volkes auslösen, von der man noch 
nicht sagen könne, wohin sie führe. 
Die russische Revolution hatte einen entscheidenden Umschwung 
in der Haltung der alten Partei zu den östlichen Fragen ausgeübt. Mit 
Gebietserwerbungen auf Kosten des Zarismus hätte man sich früher 
unter geringem, vielleicht nur formalem Widerspruch abgefunden. Seit 
bald einem Jahr war dies anders geworden. Jetzt begegnete selbst die 
Forderung geringfügiger, strategisch notwendiger Grenzverbesserung 
schärfstem Widerspruch. Man spielte in der Partei wieder einmal mit dem 
Gedanken der Ablehnung der künftigen Kriegskredite, um die Regierung 
gefügig zu machen. Der „Vorwärts“ kündigte am 6. Januar an, die 
Sozialdemokratie wolle kein „Opfer der Überzeugung“ bringen. 
Der Vorschlag der Bolschewiki, die weiteren Verhandlungen nach 
Stockholm zu verlegen, wurde wohlwollend erörtert. Er begegnete in 
der Mehrheitspresse geteilter, bei den „Unabhängigen“ voller Zustim- 
mung. Man hoffte, daß sich die Entente dort alsbald an den Be- 
sprechungen beteiligen werde. („Leipziger Volkszeitung“ vom 9. Januar.) 
Das Gebaren der „Unabhängigen“ beleuchtete ein Artikel der mehrheits- 
sozialistischen „Internationalen Korrespondenz“ (6. Jamar). Hierin wur- 
den Andeutungen darüber gemacht, daß die um Dr. Helphand (Parvus) 
gescharte Gruppe deutscher Sozialisten des „Verlags für Sozialwissen- 
schaft“ Belege dafür zu besitzen glaube, wie die Unabhängigen in jeder 
Weise auf die Bolschewiki eingewirkt hätten, um sie vom Abschluß eines 
Sonderfriedens abzuhalten und sie zu veranlassen, die Verhandlungen in 
die Länge zu ziehen. Natürlich sprach die „Leipziger Volkszeitung“ sofort 
von Demunziation. Da auch Mehrheitsblätter, wie die „Magdeburger 
Volksstimme“, die Andeutungen der „J. K.“ verurteilten, sah sich diese 
zur Zeit außer Stande, ihr Material der Offentlichkeit zu unterbreiten, 
behielt sich dies aber für einen späteren Zeitpunkt vor.1) 
In diesen Tagen wurde in Berlin ein Massenflugblatt verbreitet, 
das sich gegen den Sonderfrieden wandte, der den Krieg im Westen 
nur desto grausamer entfesseln werde und Massenstreiks forderte. Die 
Herkunft des Flugblattes war nicht ersichtlich. 
Das Interesse an den innerpolitischen Fragen war durch die Frie- 
densverhandlungen natürlich zurückgedrängt. Hier und da forderte die 
1) Am 19. 1. wurden die Angaben der „J. K.“ in der „Glocke“ bestätigt 
unter Berufung auf bolschewistische Gewährsmänner.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.