Full text: Erinnerungen an die Kriegsjahre im Königlich Preußischen Kriegsministerium. Erster Band. Der Weg zur Revolution 1914-1918. (1)

114 Elftes Kapitel 
gegnete nur geringem Interesse. In der Offensive im Westen war eine 
Pause eingetreten. Die Wahlrechtsfrage trat wieder in den Vordergrund. 
Die Ablehnung des gleichen Wahlrechts im preußischen Abgeord- 
netenhause — m. E. ein schwerwiegender politischer Fehler — verursachte 
eine ungeheuere Erregung in der sozialdemokratischen Presse. Jetzt sei 
dem Volke klar, hieß es, daß die stärkste Macht auch in der preußischen 
Monarchie nicht der König, sondern die herrschende Klasse sei! Statt 
der erhofften Versöhnung werde nun eine weitgehende Radikalisierung 
der Massen eintreten. Es sei zu fürchten, daß „in ganz Europa der 
Haß, die Verachtung gegen dieseso Preußen neue Nahrung finden“ 
werde („Hamburger SEcho“ 15. Mai). Und der „Vorwärts“ ließ sich 
die gute Gelegenheit nicht nehmen, die durch die notwendig gewordene 
Brotverkürzung erzeugte Mißstimmung für seine Zwecke auszubeuten, 
indem er am 16. Mai schrieb, daß „an demselben Tage, an dem das 
gleiche Wahlrecht in Preußen abgelehnt wurde“, auch die Herabsetzung 
der Brotration beschlossen sei. 
Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Der besonnene und geachtete 
Gewerkschaftsführer Hugo Winnig wies („Glocke“ 18. Mai) sorgenvoll 
darauf hin, daß die Erbitterung der Massen einen kaum zu überbietenden 
Grad erreicht habe; sie ließen sich auf kein Parteiprogramm mehr ein, 
verurteilten aufs schärfste das politische System der herrschenden Ober= 
schichten und seien beherrscht von dem brennenden Verlangen, damit 
abzurechnen, sobald sie die Hand frei hätten. 
Der Parteivorstand rief am 17. Mai zur Abhaltung von Ver- 
sammlungen auf, die die Auflösung des Landtags fordern sollten. 
Die Wöählarbeit der Unabhängigen wurde eifrig fortgesetzt. Im 
Wahlkreise Niederbarnim mußte das Mandat neu besetzt werden. Der 
„Vorwärts“ (13. März) berichtete, daß der unabhängige Wanderredner 
dort in allen Versammlungen gesagt habe, der Arbeiter habe kein Vater- 
land mehr, und Deutschlands Ergeben könne ihm ganz gleichgültig 
sein. Innerhalb der Gewerkschaften waren es besonders die „Hand- 
lungogehilfenzeitung“ und das „Schuhmacherfachblatt“, die scharfe 
Angriffe gegen die „nationalistische Durchhaltepolitik“ der General- 
kommission, die die Arbeiterinteressen mit Füßen trete, richteten. Un- 
zweifelhaft war es den Unabhängigen gelungen, das Mißtrauen gegen 
die Führer, das den Massen ohnehin innezuwohnen pflegt, erheblich 
zu verstärken.
	        
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