„Der Arbeiter hat kein Vaterland“ 115
Mit besonderer Genugtuung begrüßte die „Leipziger Volkszeitung“
die Tatsache, daß der russische Sondergesandte Petrow gleich nach
seiner Ankunft in Berlin im März Kautsky besucht habe.
Ende Mai nahm die sozialdemokratische Presse Gelegenheit, die
ganze Frage der Stellung zur Regierung aufzurollen. Es geschah zu-
erst in der Weise, daß dieser die volle Verantwortung für ihr Handeln
zugeschoben, und die Sozialdemokratie davon freigesprochen wurde,
selbst an dieser Verantwortung infolge ihres Verhaltens beim Zustande-
kommen der jetzigen Reichsleitung teilzuhaben. Stampfer sprach offen
aus, es sei „ein schlimmer Fehlgriff der Reichstagsmehrheit gewesen,
daß sie der Ernennung des Grafen Hertling zum Reichskanzler ihre
Zustimmung gab“. („Breslauer Volkswacht“ 25. Mai.) Das einzige,
was der Regierung vielleicht noch Aussicht auf eine längere Lebensdauer
verheiße, sei, daß niemand ein rechtes Interesse daran habe, sie zu
stürzen. „Sie steht, weil niemand sie stößt“; falle sie, so erfolge viel-
leicht kein Fortschritt, sondern ein Rückfall in alte Gewohnheiten bei
der Kanzlerwahl („Breslauer Volkswacht“ 22. Mai). Die „Leipziger
Volkszeitung“ (23. Mai) bemerkte hierzu treffend, v. Payer sei als
Vertrauensmann der „Regierungssozialisten“ Vizekanzler geworden;
„aber hinterher wollen die Scheidemänner es niemals gewesen sein,
wenn es brenzlich wird.“
Bio zu einem gewissen Grade war die Fronde der Sozialdemokratie
gegen die Regierung vielleicht verständlich. Der Kanzler hatte in den
Verhandlungen, die er mit den Parteiführern vor Ubernahme seines
Amtes führte, bestimmte Zusagen innerpolitischer Art gemacht: Auf-
hebung des 615 3 der Gewerbeordnung, Milderung des Belagerungs-
zustandeo und der Zensur, vor allem baldige Einbringung einer Vor-
lage über das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in
Preußen.
Das erste dieser Versprechen war eingelöst. Bei der Frage des
Belagerungozustandes ergaben sich bereits erhebliche Schwierigkeiten.
Angesichte der wachsenden feindlichen Propaganda, der landesverräte-
rischen Umtriebe und der Streikhetzereien sträubten sich Militär= und
Zivilbehörden dagegen, die Zügel zu lockern. Sie bestanden sowohl auf
der Zensur der Tagespresse und sonstiger politischer Schriften, wie auf
der Uberwachung politischer Versammlungen. Aber gerade hier fühlten
Freisinn und Sozialdemokraten sich in ihren „Menschenrechten“ bedroht.
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