Full text: Erinnerungen an die Kriegsjahre im Königlich Preußischen Kriegsministerium. Erster Band. Der Weg zur Revolution 1914-1918. (1)

6 Erstes Kapitel 
war wohl der Wunsch nach einer einmütigen Kundgebung des Reichs- 
tages gewesen. Vielleicht wäre dieses Ziel auch ohne jene Verhand- 
lungen erreicht worden. Auch später wäre es wohl angebracht ge- 
wesen, zu beachten, daß die sozialdemokratischen Führer eigentlich fast 
ohne Gefolgschaft waren. Außerungen der Wählerschaft lagen zahl- 
reich vor. Und dachte man nicht daran, daß Entgegenkommen gegen 
die sozialdemokratische Führung deren Ansprüche nicht abschwächen, 
sondern steigern würde? 
In Verfolg dieser Politik verfügte der Minister des Innern be- 
reits in den ersten Tagen des Januar lo1#, daß die Tatsache allein, 
daß ein in ein kommunales Amt Gewählter Mitglied der sozialdemo- 
kratischen Partei sei oder sozialdemokratische Gesinnung öffentlich be- 
kannt habe, während dieses Krieges nicht ausreiche, um die Versagung 
der Bestätigung zu begründen. 
Inzwischen hatte die radikale Opposition in der sozialdemokratischen 
Partei erneute Tätigkeit entfaltet. Diese Opposition, geführt von Karl 
Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Klara Jetkin u. a., war 
bereits vor dem Kriege vorhanden, aber in den Tagen der Mobilmachung 
fast völlig zusammengebrochen. Durch rührige Wühlarbeit gewann sie, 
besonders in den größeren Städten, allmählich an Anhang. Ihre 
Agitation richtete sich außer gegen Regierung und Bürgertum auch 
gegen die Fraktionsmehrheit, zum Teil gegen den weniger.. radikalen 
Parteivorstand und, etwa seit Dezember 1914, auf Stimmungsmache 
für einen „Frieden um jeden Preis“. Von einer im eigentlichen Sinne 
des Wortes heeresfeindlichen Propaganda hielten die Radikalen sich 
zunächst fern, wenn sie es auch nicht verschmähten, zur Erreichung ihres 
Zieles würdelose Verbeugungen vor dem feindlichen Auslande und der 
sozialistischen Internationale zu machen.:) 
Die Regierung begnügte sich vorerst mit der Beobachtung dieser 
Tätigkeit. — 
Konnte man im Jahre 1914 doch noch eine allmähliche Um- 
wandlung der deutschen Sozialdemokratie in eine, unbeschadet ihrer 
theoretischen Grundsätze, nationale Partei erhoffen, in deren Entwicke- 
lung durch kleinliche und verärgernde Zensur einzugreifen, ein Fehler 
gewesen wäre, so begann sich schon in der ersten Hälfte des neuen 
Jahres das Bild leider zu ändern.
	        
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