Die Lebensmittelteuerung 23
Gruppe „Flugblätter übelster Art“ ins Feld sende 1) und dabei bekannte
Mitglieder der Fraktionomehrheit als Absender angebe.
Eine besondere Taktik befolgte der Abg. Dr. Cohn. Wo es an-
gängig war, setzte er sich für die gefangenen und internierten Russen
und Engländer ein unter den gröbsten Vorwürfen gegen die deutsche
Regierung und das Heer im allgemeinen und die Offiziere im be-
sonderen. Davon aber, was unsere gefangenen Landoleute in Feindes-
land zu erdulden hatten, schwieg er; mir ist aus den vielen Kommis-
sionsverhandlungen auch nicht ein Fall erinnerlich, in dem er wenig-
stens unsere Vergeltungsmaßnahmen als berechtigt anerkannt hätte.
Beileibe nicht. Galt es doch international zu denken und zu handeln —
natürlich zum Schaden des eigenen Landes! —
Zwei Fragen bewegten seit Beginn des Jahres 1916 die Arbeiter-
schaft — und zwar nicht nur die sozialdemokratische — mit be-
sonderer Lebhaftigkeit: Die Lebensmittelnöte und die Reform des
preußischen Wahlrechtes.
Der Unmut über die Teuerung hatte neue Nahrung erhalten an-
läßlich der zahlreichen Beurlaubungen einberufener Väter um Weih-
nachten herum. Besonders wenn die Urlauber vor längerer Feit schon
einmal auf Urlaub daheim waren und nun den Unterschied in der
Lebenshaltung der Ihrigen gegen früher beobachteten, war große Ver-
stimmung die Folge; viele kamen dann in das Gewerkschaftshaus und
beklagten sich dort über alles, ohne das ihnen natürlich wesentlich zu
helfen war. Vielleicht hätten Beruhigungoartikel in den von den Massen
gelesenen Zeitungen Erfolg gehabt; im allgemeinen bewahrte diese
Presse jedoch hierin Zurückhaltung. — Um so eifriger bedienten sich
die Radikalen dieses willkommenen Agitationsstoffes. Es kann hier
der Regierung der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie, wie siets,
unentschlossen und schwach, in der Furcht vor der großen Masse der
Verbraucher in den Großstädten und Industriezentren sich in einen
in hohem Maße bedenklichen Staatssozialismus hatte hineindrängen
lassen, und daß sie, als seine Folgen sich in einer schweren Gefährdung
der Volksernährung zeigten, so gut wie nichts gegen die zeitweise
geradezu maßlose Hetze gegen die Landwirtschaft tat. Der unselige
Gegensatz zwischen Stadt und Land wurde zum Schaden der Gesamt-
heit wieder aufgerissen. Jetzt schon zeigte sich, daß es eine verhängnis=
*- 1) Siehe Anhaong, „Flugblaltpropaganda“, Nr. 6.