56 Fünftes Kapitel
die Arbeiterschaft zu einer Wiederholung der Aprilstreiks in größerem
Maßstabe aufzureizen, hatte es nicht gefehlt. An den traditionellen
Maifeiergedanken anknüpfend, hatten die Radikalen durch die gewohnte
Agitation von Mund zu Mund ihren Willen in die Massen zu tragen
versucht. Hinzu kam eine Kundgebung der Reichstags= und der preußi-
schen Landtagsfraktion der neuen „unabhängigen“ Partei, worin ver-
langt wurde, die Arbeiter sollten, „wo es nur irgend möglich ist, ihre
Stimme erheben für die Forderungen, die sie bis ins Tiefste be-
wegten: für den Achtstundentag, den Weltfrieden, die Völkerverbrüde=
rung“. Vorsichtigerweise forderte man offiziell übrigens nicht zu Streiks,
sondern höchstens zu Ausflügen auf, die am 1. Mai stattfinden sollten.
Wenn die Hetzversuche im ganzen erfolglos blieben, so wirkten
hierzu verschiedene Faktoren zusammen.
Zunächsi ging von den amtlichen Bemühungen, einen Streik un-
möglich zu machen, im ganzen ein starker, durch die stellenweise er-
folgte Ubernahme von Betrieben in militärische Leitung durchaus er-
folgreich unterstützter Eindruck auf die Arbeiterschaft aus. Der be-
kannte Brief des Generalfeldmarschalls von Hindenburg an sie war
von tiefer Wirkung. Eine nachhaltige Unterstützung fanden die amt-
lichen Stellen ferner in Aufrufen der Gewerkschaften, schließlich machten
sich auch die Stimmen aus dem Feld gewichtig geltend. Auf dem badi-
schen Landesparteitag war das Wort gefallen: „Man bekommt andere
Begriffe vom Berliner Streik, wenn man im Schützengraben sitzt und
wartet auf einen Schuß der deutschen Artillerie“, und das „Hamburger
Echo“ (28. April) veröffentlichte den Brief eines jungen Sozialdemo-
kraten von der Aisne: „... nun wollen uns die Munitiongarbeiter in
der Heimat im Stich lassen. Wir müssen dafür bluten.“
Jedenfalls schien die Streikgefahr bis auf weiteres beseitigt.
Dafür setzten mit erneuter Kraft die Forderungen nach sofortiger
Wahlrechtsreform und Aufnahme von Friedensverhandlungen ein.
Alos Hauptvertreter dieses Bedürfnisses, den Massen eine unab-
lässige Friedenspropaganda vorzuführen, trat nach wie vor der „Vor-
wärts“ auf. Bei jeder Gelegenheit betonte er die Fehlerhaftigkeit der
deutschen Zurückhaltung hinsichtlich der Kriegszielerklärungen. Es sei
wahrscheinlich, daß der Kanzler den allgemeinen Frieden ohne Erobe-
rungen und Entschädigungen ebenso wolle, wie die Sozialdemokratie,
aber seine abwartende Haltung rechtfertige die Politik der russischen