70 Sechstes Kapitel
lamentariern der Mehrheitsparteien auf leitende Posten berufen wur-
den, starkem Mißvergnügen. Nicht wegen der Persönlichkeiten, deren
fachliche Tüchtigkeit fast allgemein anerkannt wurde, sondern wegen des
Ausbleibens durchgreifender Parlamentarisierung, die eine vorherge-
gangene Verständigung mit der Mehrheit über die einzelnen Kandidaten
bedinge. Die jetzige Form der Berufung könne nur als Ubergang zum
parlamentarischen System erträglich sein; für die Dauer sei sie uner-
träglicher und schlimmer als der alte Zustand. Dieser habe #mmerhin
auch seine Vorzüge gehabt und z. B. der Amterjägerei von Parlamen-
tariern einen Riegel vorgeschoben (Magdeburger Volksstimme vom
10. August). Auch Scheidemann fand, „das sei keine Neuorientierung“,
sondern die Obrigkeitsregierung mit neuen Männern; zur Herbeiführung
eines schnellen Friedens sei aber das parlamentarische Regime unbe-
dingt nötig.
Immerhin entnahm man aus der Ernennung des Sozialdemokraten
D## August Müller zum Unterstaatssekretär den Anstoß und gewisser-
maßen das Recht zu verschärfter Werbearbeit unter der Beamtenschaft
für die Sozialdemokratie.
Eq soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Mehrheitspresse im all-
gemeinen in den schwierigen Tagen der Krise zur Monarchie als In-
stitution ein auskömmliches Verhältnis gesucht hat. Vereinzelt gingen
angesehene sozialdemokratische Blätter darüber noch hinaus. So brachte
das „Hamburger Echo“ am 14. Juli einen ganz ungewöhnlich beachtens-
werten Aufsatz „Die Politik des Kaisers“, in dem anerkannt wurde,
daß eo dem Kaiser siets mit der Versöhnung der sozialen Gegensätze
Ernst gewesen sei, und daß er am 4. August 1914 mit schöpferischem
Instinkt politisch das Rechte getan habe. Die Wiederkehr des alten
Mißtrauens wünsche wohl weder Monarch noch Arbeiterklasse. Die So-
zialdemokratie sei nicht darauf erpicht, aus Deutschland eine Republik zu
machen (2), und die Monarchie werde auf den Schultern der Millionen
werktätiger Männer ebenso fest und sicher ruhen, wie auf den ge-
krümmten Räücken der altpreußischen Granden.
Es erhoben sich sogar — ganz vereinzelt — Stimmen, die in
klarer politischer Einsicht sich gegen den Parlamentarismus aussprachen.
So schrieb Heilmann in der „Glocke“, es sei die Wesenheit dieses
Systemo, daß der Minister, der zu einem Amte berufen würde, nichts
von ihm verstünde. Heilmann zeigte sich nicht blind für die Vorzüge