Full text: Sächsische Volkskunde.

160 H. Ermisch: Die Anfänge des sächsischen Städtewesens. 
lehrte Reflexion den Empfindungen und Bedürfnissen des Volkes entsprechend 
aus der Volksseele heraus sich entwickelte, mußte sich dieser Unterschied auch im 
Rechts= und Gerichtswesen der Stadt ausprägen; auch hier mußten die Städte 
eine Sonderstellung einnehmen: sie wurden zu eigenen Gerichtsbezirken. 
Die alte Organisation des fränkisch-germanischen Staats beruhte auf 
seiner Einteilung in Gaue und der Gaue in Hundertschaften. An der Spitze 
des Gaues stand der Graf, an der Spitze der-Hundertschaft der Centenar. 
Ersterer hatte sowohl den Vorsitz in der dreimal jährlich wiederkehrenden 
großen Gerichtsversammlung, dem echten Ding, als in den je nach Bedürfnis 
zusammentretenden außerordentlichen Gerichtsversammlungen, den gebotenen 
Dingen; in allen schwereren Fällen hatte er zu richten, in den leichteren Fällen 
der Centenar, dem auch die bürgerliche Gerichtsbarkeit zufiel. Grafen wie 
Centenare waren Beamte des Königs, des obersten Richters. Aber diese 
Richter hatten nur zu richten, d. h. das bestehende Recht zu verwirklichen; 
was Recht sei, darüber hatten nicht die Richter zu entscheiden, sondern die 
Genossen des betreffenden Gerichtsbezirkes; sie hatten auf des Richters Frage 
Urteil zu teilen, d. h. Auskunft zu geben, was im Einzelfall der überliefe- 
rung, dem Rechtsbewußtsein des Volkes entspreche. Ob die Urteiler, denen 
der Richter seine Fragen vorlegte, für jeden Fall aus der in der Gerichts- 
versammlung anwesenden Menge gewählt wurden, oder ob es einen bestimmten 
engeren Kreis von rechtskundigen Personen, von Schöffen, gab, denen das 
Urteilfällen ein für allemal übertragen wurde, ist dabei gleichgiltig. Diese 
einfache Gerichtsverfassung war im Laufe der Jahrhunderte mannigfach durch- 
brochen worden; zuerst wußte sich die Geistlichkeit durch Erlangung sogenannter 
Immunitätsprivilegien davon freizumachen, besondere Gerichtsbezirke für ihre 
Gebiete auszusondern; das Gleiche gelang anderen Grundherrschaften. Auf 
ständischer Grundlage entwickelten sich andere Sonderrechte: das Lehnrecht für 
die Vasallen, das Hofrecht für die unfreien Unterthanen. Die Grasschaften 
selbst verloren ihren Charakter als Amtsbezirke; sie wurden erblich, mächtige 
Geschlechter — vor allem in den Marklanden — vereinten deren mehrere in 
ihrer Hand und legten so den Grund zur Landesherrschaft, die dann ein 
Recht des Königs nach dem anderen in ihre Gewalt brachte. Die Gerichts- 
barkeit, die einst der Graf als Beamter des Königs gehandhabt, übte jetzt der 
Vogt als Beamter des Landesherrn; sein Bezirk war freilich meist viel kleiner 
als der des Grafen, hat sich bei uns, wie wir sahen, im Zusammenhang mit 
der Burgwartverfassung entwickelt. Wie der Centenar neben dem Grafen, so 
stand neben dem Vogt der Schultheiß. Als nun mit dem Aufkommen der Städte 
in die soziale Zusammensetzung des Mittelalters ein neuer Interessenkreis eintrat, 
der neue Rechtsanschauungen und Rechtsbedürfnisse schuf, bildete sich mit Not- 
wendigkeit ein eigenes Stadtrecht; es bildete sich aus dem allgemeinen Landrecht 
heraus und trat neben dasselbe. Der älteste Ausdruck für dieses Stadtrecht,
	        
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