172 Robert Wuttke: Stand und Wachstum.
Den entscheidenden Schritt von der Einzel= zur Massenbeobachtung
that 1665 der Engländer John Graunt in einer, auf die Londoner Geburts-
und Totenlisten begründeten Untersuchung über die Bevölkerungsgliederung.
Eine eigne Wissenschaft hat sich aus diesen Anfängen entwickelt. Nicht der
einzelne Mensch ist Gegenstand der Untersuchung, nicht darauf kommt es
mehr an zu erkennen, wie er handelt, wie es ihm ergeht: sein Schicksal
erscheint gleichgültig. Dagegen wird er in eine Gruppe zusammengefaßt,
er bildet nur einen Teil dieser Masse, und diese Gruppe wird beobachtet.
Es handelt sich allein um Massenzusammenhänge und Massenerscheinungen,
um Sozial-, nicht Individualforschung. Heute sind in allen Kulturstaaten Be-
obachtungsstationen, die sog. statistischen Amter, errichtet, deren alleinige Auf-
gabe darin besteht, alle Veränderungen, die sich in der Bevölkerungsmasse
zeigen, aufzuzeichnen und zu untersuchen.
Auch wir wollen unser Augenmerk auf gewisse Erscheinungen lenken,
bei denen es nicht auf den Einzelnen sondern auf das Volk als eine Ge-
samtheit ankommt. Es soll nicht ein Abriß einer sächsischen Bevölkerungs-
statistik werden, sondern unsere Aufgabe läßt sich kurz dahin zusammenfassen:
zu zeigen, wie das Wachstum und die Gliederung des Volkes auf die geistige,
politische und wirtschaftliche Entwickelung eingewirkt haben.
Von maßgebender Bedeutung für ein Volk ist der ihm zugewiesene
Lebensraum. Der Volkscharakter, die politische und wirtschaftliche Verfassung
hängen auf das engste von der Gestaltung des Bodens ab. Schon öfters
sind für Sachsen die Wechselbeziehungen, die sich aus der geographischen
Natur des Landes, aus der Mischung zwischen Flach= und Hügelland, aus
den Bodenschätzen und der Anbaufähigkeit, aus der Lage im Herzen Deutsch-
lands erörtert worden. Einem Volke aber ergeht es ähnlich wie dem Ein-
zelnen. Es erhält von der Natur eine Reihe von Gaben; wie es sie aus-
nutzt, wie es sie zu seinem Vorteil verwendet, hängt von der eignen Tüchtig-
keit und Arbeitsamkeit ab. Nur zu oft aber wird der Naturfaktor überschätzt.
Unter dem gleichen Klima, bei ähnlichen Bodenverhältnissen sehen wir ein
und dasselbe Volk zu verschiedenen Zeiten eine grundverschiedene Entwickelung
nehmen. Man braucht bloß an die Griechen des Altertums und die der
Gegenwart zu denken, um sofort zu erkennen, daß es in erster Linie auf den
Menschen ankommt und wie er die ihm von der Natur dargebrachten Gaben
verwendet.
Neben dem Grund und Boden ist für die spätere Entwickelung die Be-
siedelung des platten Landes, die Verteilung des Grundbesitzes auf dem Lande,
das Überwiegen je einer Gruppe des Klein-, Mittel= oder Großgrundbesitzes
maßgebend. Erstens für die Gliederung der Gesellschaft nach Ständen und
Klassen, zweitens für die politische und wirtschaftliche Ordnung des